Sonntag, 4. Mai 2025

Der gute Hirte

 Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 4. Mai 2025, über Johannes 10,11-16.27-30


Liebe Schwestern und Brüder,


wer möchte schon ein Schaf sein - ein Herdentier von geringem Verstand? Aber behütet sein - das möchte man schon. Man genießt es, im Urlaub nicht kochen, nicht putzen, nicht aufräumen und sich auch sonst um nichts kümmern zu müssen. Das fühlt sich an wie eine Rückkehr in die Kindheit, als man sich, wenn es gut ging, auf die Eltern verlassen, sich von ihnen versorgen und ihnen die Entscheidungen überlassen konnte.

Jesus nennt sich “der gute Hirte”. Damit greift er auf ein vertrautes Bild zurück. Zu seiner Zeit waren Hirten allgegenwärtig - man denke nur an die Weihnachtsgeschichte. Doch wenn es auch heute kaum noch Hirten gibt, kann sich jede:r etwas unter einer Hirtin, einem Hirten vorstellen - eben wegen der Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben. Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen sind im Grunde nichts anderes als Hirten - und gute noch dazu (meistens jedenfalls). Sie hüten nicht um des eigenen Vorteils willen, gehen ihren Schäfchen nicht an die Wolle und schon gar nicht ans Leben, sondern trachten nach dem, was das Beste für die ihnen Anbefohlenen ist.

Mit dem Hirten verbindet sich zugleich die Rolle eines Anführers, eines Herrschers. Die römisch-katholische Kirche wählt in den kommenden Tagen einen neuen Oberhirten. In der Bibel werden Anführer wie Mose als Hirten bezeichnet, oder Könige wie David - der ja selbst einmal als einfacher Schafhirte begonnen hatte. Schließlich ist “Hirte” auch eine Bezeichnung für Gott, wie wir es im 23. Psalm gebetet haben: „Der Herr ist mein Hirte.” 

Wenn Jesus sich “der gute Hirte” nennt, schwingt beides mit: dass er es gut mit uns meint, für uns nur das Beste will. Und dass er unser Herr ist, also so etwas wie unser Anführer.
In welchem Verhältnis stehen seine Güte und sein Herrsein zueinander?

Das Verhältnis, in dem Jesus zu den Seinen steht, ist das Kennen: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.” Man sollte meinen, das sei selbstverständlich: Ein Hirte muss seine Schafe kennen - er wird sie kennen, weil er tagtäglich mit ihnen zu tun hat. Für uns sieht ein Schaf wie das andere aus - ein Hirte kann seine Schafe auseinanderhalten und sieht sofort, wenn eines fehlt oder wenn einem Schaf etwas fehlt.

Die Schafe kennen natürlich auch ihren Hirten. Sie wissen, dass sie vor ihm keine Angst zu haben brauchen, dass sie ihm vertrauen können, weil er ihnen helfen wird. Sie kennen ihn besonders gut, wenn er etwas zu Fressen dabei hat - dann kommen sie gelaufen, wenn sie ihn nur von weitem sehen. Und wenn er nach ihnen ruft, hören sie auf seine Stimme. Wenn es die Aufgabe des Hirten ist, zu führen, dann ist es die Aufgabe der Schafe, zu gehorchen. Eine leichte Aufgabe, solange “gehorchen” bedeutet, dass man zur grünen Aue und zum frischen Wasser geführt wird. 

Wenn es einem dabei gut geht und wenn es einem gut tut, fällt gehorchen gar nicht schwer. Darum versprechen alle, die Anführer werden wollen, ihren Schäfchen das Blaue vom Himmel. Sie wissen, wo es langgeht, was Wohlstand bringt und Arbeitsplätze, wie man die Migration eindämmt. Sie ordnen unsere komplizierte Welt, indem sie z.B. dekretieren, dass es nur Männlein und Weiblein gibt, oder der Klimawandel nur eine Erfindung derer ist, die uns das Duschen und Autofahren vermiesen wollen. Damit laufen ihnen die Schäfchen zu, um sich von ihnen führen - um nicht zu sagen: verführen zu lassen.

Auch wenn solche Führer behaupten, gute Hirten zu sein, denen nur am Wohl ihrer Schäfchen gelegen ist - in Wahrheit geht es ihnen um Macht über die Schafe. Und am Ende ziehen sie ihren Schäfchen das Fell über die Ohren - wie ja übrigens auch die Hirten, die diesen Beruf ausüben, ihre Schafe nicht aus Spaß an der Freud oder als Zeitvertreib hüten.

Lassen die Schafe erkennen, dass sie die Absicht der Hirten durchschaut haben, sind die nicht mehr so freundlich. Dann werden andere Töne angeschlagen - und der Gehorsam wird zur Pflicht, wenn nicht sogar zu einer unerträglichen Qual. 

Schafe, die ihren Hirten “kennen”, wissen also im besten Fall, was sie von ihm erwarten können und zu gewärtigen haben. Aber bis ein Schaf erkennt, dass sein Hirte eigentlich ein Wolf im Schafspelz ist, kann es schon zu spät sein.

Um als misstrauisches oder bereits gebranntes Schaf dem Hirten wirklich vertrauen zu können, muss man genau wissen, mit wem man es zu tun hat. Leider sind die meisten Schäflein arglos, und selbst gebrannte Schafe fallen darauf herein, wenn die Wölfe Kreide gefressen haben. Aber sogar wenn sie sich als Wölfe zu erkennen geben und aus ihren Absichten kein Hehl machen, glauben viele Schafe, dass es nicht ihnen an den Kragen gehen wird, sondern den Schafen aus dem anderen Stall - und um die wäre es nicht schade. Dass für einen Wolf alle Schafe gleich sind, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn.

Um als skeptisches Schaf seinem Hirten vertrauen zu können, braucht es mehr als wohlfeile Worte. Jesus spricht vom “Kennen”, und damit meint er ein gegenseitiges Vertrauen: eine Beziehung. Jesu Beziehung zu seinen Schafen entspricht seiner Beziehung zu seinem Vater: „die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt.” Zu Gott hat Jesus eine Beziehung wie der Sohn zum Vater, mehr noch: „Ich und der Vater sind eins.”

Bemerkenswert, dass Jesus sich zuerst nennt und nicht bescheiden dem Vater den Vortritt lässt: „Ich und der Vater”, nicht „Der Vater und ich.” Das ist aber keine Unbescheidenheit, sondern damit zeigt Jesus, dass der Weg zu Gott über ihn führt: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.” Es ist eine Beziehung zu Jesus, dem guten Hirten, nötig, um mit Gott in Beziehung zu sein.

Bei mancher und manchem mag sich jetzt Widerspruch regen: Wieso sollte ich keinen direkten Draht zu Gott haben? Der Widerspruch erledigt sich, wenn man überlegt, wie man zum Glauben kam. Den Glauben findet man nicht auf der Straße, auch fällt er nicht vom Himmel - obwohl einem das so vorkommen mag. Zum Glauben findet man durch die Gemeinde, die diesen Glauben lebt und vermittelt - im Bild gesprochen: durch die Herde und in der Herde der Schafe. Und der gute Hirte, Jesus, meint es nicht nur gut mit den Schafen, ist nicht nur ihr Anführer. Er ist selbst ein Schaf geworden: „Siehe, das ist Gottes Lamm,” sagt Johannes. Jesus steht der Gemeinde nicht nur vor, er geht ihr nicht nur voran, er ist auch ein Teil von ihr: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” Dadurch unterscheidet sich Jesus von allen anderen Anführern, die gern unsere Hirten wären: Er steht nicht über uns, er geht mit uns.

Die Zeitgenossen Jesu warteten auf den Messias. Sie hofften, er wäre es und wünschten, er würde diese Rolle annehmen und das Reich Gottes aufrichten, wie es die Propheten angekündigt hatten. So suchen Menschen zu allen Zeiten nach einem Anführer, der ihre Welt zum besseren verändert. Nicht, weil sie nicht selbst entscheiden, nicht selbst für sich sorgen könnten. Sondern weil sie auf ein Wunder warten: Das Wunder, dass Ordnung in diese unübersichtliche Welt und in unser chaotisches Leben kommt. Das Wunder, dass wieder heil wird, was Menschen an Gottes Schöpfung zerstört haben. Das Wunder von Frieden und Wohlstand ohne Mühe, ohne Kosten und ohne Verzicht. Kein Mensch kann diese Wunder vollbringen. Aber weil sie so gerne Anführer sein möchten, und weil wir es so gerne glauben möchten, versprechen uns unsere Anführer diese Wunder - und dafür wählen wir sie. Kurz danach sind wir dann enttäuscht, dass sie, wie alle anderen, keine Wunder vollbringen konnten.

Diese Enttäuschung erlebt man auch in der Beziehung zu Gott. Obwohl man es besser weiß, hofft man für sich auf ein Wunder. Darauf, dass Gott mir zuliebe die Naturgesetze für einen Moment außer Kraft setzt, mir zuliebe einmal in den Lauf der Dinge eingreift. Und man ist gekränkt, dass er das nicht tut, und schließt daraus, dass Gott uns nicht lieb hat.

Diese Kränkung erleben auch Kinder, wenn sie entdecken, dass ihre Eltern nicht alles wissen, nicht alles können, im entscheidenden Moment einmal nicht da sind. Dass auch sie müde werden können, Fehler machen, schwach sind. Zum Erwachsenwerden gehört, über diese Kränkung hinweg zu kommen, indem man erkennt, dass wir alle “nur” Menschen sind, alle unsere Grenzen und Schwächen haben. Und dass unsere Wünsche und Phantasien über uns und andere immer wieder auf die harte Wirklichkeit treffen und daran zerschellen.

Im Menschen Jesus begegnet uns Gott. Wenn wir auf das Kreuz blicken, erkennen wir, dass Gott nicht in den Lauf der Dinge eingreift, die Welt nicht zu unseren Gunsten verändert. Wir müssen unser Leben leben, etsi Deus non daretur, als gäbe es Gott nicht. An der Auferstehung erkennen wir, dass Gott immer für eine Überraschung gut ist. Und dass, was wir uns von Gott vorstellen können, was wir über ihn denken, Gottes Wirklichkeit nicht zu erfassen oder gar zu begreifen vermag. 

Die Zeitgenossen Jesu hofften, er sei der Messias, der Gottes Reich auf Erden aufrichtet, und wandten sich enttäuscht von ihm ab, weil er es nicht tat. Aber Jesus hat Gottes Reich aufgerichtet. Seite Zeitgenossen begriffen es nicht. Sie waren in ihren Träumen und Phantasien gefangen und konnten die Wirklichkeit nicht sehen. Gottes Reich beginnt da, wo der Mensch nicht des Menschen Wolf ist. Wo zwei oder drei zusammenkommen nicht, um über einen zu lästern, der nicht da ist, sondern um Gott die Ehre zu geben. Jesus, der gute Hirte, möchte keine dummen Schafe, die ihm blindlings hinterherlaufen. Jesus hütet uns so, dass wir selbst zu Hirtinnen und Hirten werden, die Verantwortung übernehmen, für ihr Leben und für das ihrer Mitmenschen, für ihre Welt und für Gottes Schöpfung, unsere schöne, wunderbare Erde.