Donnerstag, 29. Mai 2025

Das demokratischste aller Bücher

Predigt an Christi Himmelfahrt, 29. Mai 2025, über 1.Könige 8,22-28

Salomo trat vor der ganzen Gemeinde Israel an den Altar des Herrn und streckte seine Hände zum Himmel empor. Und er sprach: Herr, Gott Israels, wie du ist kein Gott oben im Himmel oder unten auf der Erde. Du bewahrst den Bund und die Treue deinen Knechten, die vor dir mit ungeteiltem Herzen wandeln. Du hast deinem Knecht David, meinem Vater, gehalten, was du ihm zugesagt hattest. Du hast es mit deinem Mund verheißen und mit deiner Hand erfüllt, wie es heute zu sehen ist. Und nun, Herr, Gott Israels, halte deinem Knecht David, meinem Vater, was du ihm zugesagt hast: „Es soll dir niemals an einem Mann fehlen, der vor mir auf dem Thron Israels sitzt, wenn nur deine Nachkommen auf ihren Weg achten, dass sie vor mir wandeln, wie du vor mir gewandelt bist.” Und nun, Gott Israels, erweise doch dein Wort als zuverlässig, das du deinem Knecht David, meinem Vater, zugesagt hattest. Denn wohnt Gott wirklich auf der Erde? Sieh, der Himmel und des Himmels Himmel fassen dich nicht. Umso weniger das Haus, das ich dir baute. Wende dich dem Gebet deines Knechtes und seinem Flehen zu, Herr, mein Gott, und erhöhe das Flehen und das Gebet, das dein Knecht heute vor dir tut.

Liebe Schwestern und Brüder,

der Text aus dem 1.Königebuch lässt uns König Salomo sehen, wie er bei der Weihe des Tempels am Altar steht. Der Platz am Altar ist der Ort, der ausschließlich den Priestern vorbehalten war. Nur die eine Ausnahme gab es: Dass jemand sich in letzter Not an den Altar klammerte, um dort Zuflucht zu suchen - Kirchenasyl, sagen wir heute. Aber das ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ein König hat am Altar nichts zu suchen. Zur Veranschaulichung: Das ist in etwa so, als hätte die Einweihung der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin nicht Erzbischof Koch vorgenommen, sondern der Bundespräsident.

Wir sehen König Salomo am Altar stehen, und wir hören ihn beten. Und wenn auch in vielen Tempeln und Kirchen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder für König, Volk und Vaterland gebetet wurde, so hat doch meines Wissens nie ein König selbst für sich und den Fortbestand seiner Dynastie gebetet, wie Salomo es tut.

Aber schließlich ist es sein Tempel, in dem wir König Salomo stehen sehen. Er hat durchgesetzt, was sein Vater nicht bauen durfte. Und er wird ihn aus der Staatskasse bezahlt haben. Da hat er doch wohl alles Recht, ihn auch selbst einzuweihen.

Hier vermischen sich Staat und Kirche, bemächtigt sich die Politik der Religion, um sie für ihre Zwecke zu nutzen, wie das im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen ist. Bis heute ist die Versuchung groß, die Grenzen zu verwischen, die zwischen Staat und Kirche bestehen sollten.

Der Predigttext scheint damit kein Problem zu haben. Das könnte daran liegen, dass er aus dem Blickwinkel der Herrschenden überliefert wurde: König Salomo steht im Mittelpunkt des Geschehens. Uns fällt das heute nicht gleich auf, weil wir König Salomo nicht als einen Politiker sehen wie unseren Bundespräsidenten oder wie Präsident Trump, sondern als einen Weisen, beinahe einen Heiligen.

Und weil wir die Bibel nicht als historisches Dokument lesen, sondern als ein Glaubensbuch, das uns von der Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählt. Gottes Volk - wir gehören durch unsere Taufe dazu. Darum betrifft diese Geschichte auch uns, wenn sie auch dreitausend Jahre vor unserer Zeit stattfand.

Die Bibel gehört heute allen Menschen. Sie ist nicht nur das Buch mit der weltweit höchsten Auflage und Verbreitung, übersetzt in so gut wie alle Sprachen der Erde. Sie ist auch das demokratischte Buch, weil sich jede und jeder davon angesprochen fühlen, jede und jeder darin wiedererkennen kann.

Aber geschrieben wurde dieses Buch - zumindest der Teil, den wir das „Alte Testament” nennen - von Menschen, die am Hof des Königs lebten, die der Macht nahe oder im Dienst der Mächtigen standen.

Die Schriften des Alten - oder besser: des Ersten Testaments beschreiben den Glauben und das Leben in Israel überwiegend aus der Sicht der Herrschenden. Dabei sind sie nicht unkritisch gegenüber der Herrschaft. Der Glaube an Gott ermöglicht diese kritische Sicht auf die Herren und ihre Herrschaft. Denn selbst Könige wie David oder Salomo haben einen Herren über sich: Gott, vor dem sie sich rechtfertigen müssen.

Am Maßstab seiner Gebote mussten sie sich messen lassen. Die Propheten übernahmen diese Aufgabe - was für sie nicht ungefährlich war. Die Propheten kritisierten den König zwar, seine Herrschaft stand für sie aber nicht infrage. Für sie war eine Gesellschaft, in der das Volk über seine Belange selbst entscheidet, noch nicht vorstellbar.

Damals entschied der König über das Schicksal des Landes und seiner Bewohner:innen. An diesem Führer und seiner Führung wurde für Israel Gottes Nähe und Beistand erfahrbar: War Gott Israel wohlgesonnen, bekam es einen guten, erfolgreichen König. Ein schlechter König war ein Zeichen dafür, dass das Volk sich nicht mehr an Gottes Gebot orientierte.

Bis heute sehnen sich manche nach einem starken Führer, der keine Kompromisse machen, nicht den langen Weg durch die Institutionen gehen muss; der für seine Vorhaben keine Mehrheit im Parlament finden und seine Argumente in der Debatte bewähren muss, sondern der per Dekret bestimmt, was ab sofort für alle zu gelten hat - sogar, wenn er dabei gegen geltendes Recht verstößt. Wenn so ein autoritärer Führer Erfolg hat, sind manche sogar bereit, darin so etwas wie eine göttliche Vorsehung zu erkennen. Von da ist es kein großer Schritt mehr zum Gottesgnadentum vergangener Zeiten.

Salomo bittet Gott um den Erhalt seiner Macht. Er verknüpft sein Schicksal und das seiner Dynastie mit dem Tempel, den er errichten ließ. Salomo im Tempel - damit ist die Einheit von Thron und Altar hergestellt.

Mit der Zerstörung des salomonischen Tempels durch die Babylonier 570 v. Chr. und der Wegführung des letzten judäischen Königs ins Exil stürzte der Glaube in eine tiefe Krise, weil er so eng mit dem Staat verbunden gewesen war - und den gab es ja nun nicht mehr.

Der Glaube fand aus dieser Krise heraus, indem er sich auf seine Wurzel besann - die Wurzel, die der Maßstab gewesen war, an dem der König gemessen worden war: Gottes Gebote.

Mit dem Verlust seiner Staatlichkeit hatte das Volk Israel seinen Anführer verloren. Doch mit den Geboten als Richtschnur brauchte es keinen Anführer mehr. Gott war sein Anführer, wie er sein Volk als Wolkensäule bei Tag und als Feuersäule bei Nacht aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit geführt hatte.

Diese Kritik an der Herrschaft trägt der Glaube bis heute in sich. Wer an den Gott Israels und Vater Jesu Christi glaubt, für den haben die Herren dieser Welt nur das vorletzte Wort. Das letzte Wort hat immer Gott - und Gott allein fühlen sich die Gläubigen verpflichtet, allein seiner Herrschaft sind sie unterworfen. Eine Herrschaft, die sie nicht beherrscht, sondern ermächtigt; die sie nicht knechtet, sondern befreit.

Wenn wir an Himmelfahrt nach oben schauen - hier ins Gewölbe unseres Domes, der das Himmelsgewölbe darstellt, später draußen in den blauen Himmel über uns - dann tun wir das nicht, um Jesus nachzusehen, wie das von den Jüngern berichtet wird. Sondern um uns daran zu erinnern, dass wir niemanden über uns haben als Gott allein.

Wir sind Gott, und Gott allein, verpflichtet. Durch sein Wort, die Bibel, spricht er uns an, sind wir gemeint und angesprochen. Und so wird die Bibel ein demokratisches Buch - das demokratischte Buch überhaupt.

Was Salomo einst betete, um seine Macht zu sichern, wird zum Fundament unserer Freiheit: Dass wir die Worte halten, die Gott uns geboten hat. Geboten nicht, um uns mit Strafe zu drohen, wenn wir sie nicht halten.

Die Gebote beschreiben vielmehr die Bedingung unserer Freiheit: Nur in dem Rahmen, den sie unserem Leben geben, sind wir wirklich frei. So, wie der Dom seine dicken Mauern braucht, sein Gewölbe, um der Ort zu sein, an dem Menschen Zuflucht finden; der Ort, der uns vor der Warenwelt schützt, weil er einen heiligen Raum schafft, der verhindert, dass wir selbst zu Waren, dass wir käuflich werden; der Ort, an dem wir Gott begegnen, den der Himmel und des Himmels Himmel nicht fassen.

Denn Freiheit bedeutet nicht, zu tun, was immer man will. Freiheit bedeutet, unser Menschsein zu verwirklichen, indem wir Gott, uns und unsere Mitmenschen lieben. So wird auf dieser Erde ein Stück von Gottes Himmel sichtbar.

Sonntag, 18. Mai 2025

Die Schönheit alter Worte

Predigt am Sonntag Kantate, 18. Mai 2025, über die Kantate „Der Herr ist mein getreuer Hirt” von Johann Sebastian Bach, BWV 112

Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Hält mich in seiner Hute,
Darin mir gar nichts mangeln wird
Irgend an einem Gute,
Er weidet mich ohn Unterlass,
Darauf wächst das wohlschmeckend Gras
Seines heilsamen Wortes.

Zum reinen Wasser er mich weist,
Das mich erquicken tue.
Das ist sein fronheiliger Geist,
Der macht mich wohlgemute.
Er führet mich auf rechter Straß
Seiner Geboten ohn Ablass
Von wegen seines Namens willen.

Und ob ich wandelt im finstern Tal,
Fürcht ich kein Ungelücke
In Verfolgung, Leiden, Trübsal
Und dieser Welte Tücke,
Denn du bist bei mir stetiglich,
Dein Stab und Stecken trösten mich,
Auf dein Wort ich mich lasse.

Du bereitest für mir einen Tisch
Vor mein' Feinden allenthalben,
Machst mein Herze unverzagt und frisch,
Mein Haupt tust du mir salben
Mit deinem Geist, der Freuden Öl,
Und schenkest voll ein meiner Seel
Deiner geistlichen Freuden.

Gutes und die Barmherzigkeit
Folgen mir nach im Leben,
Und ich werd bleiben allezeit
Im Haus des Herren eben,
Auf Erd in christlicher Gemein
Und nach dem Tod da werd ich sein
Bei Christo meinem Herren.

Liebe Schwestern und Brüder,

46 Bücher hat die Bibel; in meiner Luther-Übersetzung von 1984 nehmen sie 1.625 Seiten ein - eine gewaltige Menge Text. Die ganze Bibel ist Gottes Wort, und doch sind es wenige Texte, die uns beschäftigen, uns wichtig sind, uns begleiten: Die Weihnachtsgeschichte z.B., die Bergpredigt, das „Hohelied der Liebe” aus dem 1.Korintherbrief - und natürlich der 23. Psalm.

Warum gerade diese Texte? Weil sie besonders schön sind. Wenn wir hören „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …”, dann ist Weihnachten. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei …” - besser kann man die Liebe nicht beschreiben. „Der Herr ist mein Hirte …” - da entsteht sofort ein Gefühl von Geborgenheit. Diese Texte sprechen Dinge an, die uns ganz besonders wichtig sind; sie sprechen Gefühle an, die lebenswichtig sind: Liebe, Geborgensein, dazugehören, gesehen werden. Sie sind uns wichtig, und darum sind sie schön.

Schön sind diese Texte auch, weil sie unseren Glauben auf den Punkt bringen. Wie der Satz des Pythagoras oder die binomischen Formeln die Mathematik aufschließen können und darin unverzichtbar sind, so schließt der 23. Psalm den Glauben auf. Kein Wunder, dass Wolfgang Musculus ihn zu einem Choral umgedichtet hat. Damit konnte er seine reformatorische Theologie an die Frau und an den Mann bringen. In der Reformation wurde die neue evangelische Lehre vor allem durch Lieder verbreitet, die oft auf bekannte Melodien, auf „Gassenhauer” gedichtet worden waren.

Wolfgang Musculus hieß eigentlich Mäuslein. Wie sein Freund Philipp Schwarzerd, der seinen ländlich klingenden Namen gräzisierte und sich Melanchthon nannte, übersetzte er das deutsche Mäuslein ins gehobene Lateinische. Musculus war Benediktinermönch gewesen, hatte 1518 mit 21 Jahren Luthers Schriften kennengelernt und seinen Mitbrüdern im Kloster die evangelische Lehre verkündigt. Als man ihn zum Prior des Klosters machen wollte, ging er nach Straßbourg, verheiratete sich und wurde Pastor in Augsburg, wo 1531 seine Nachdichtung des 23. Psalms entstand.

Was ist das Evangelische an seiner Psalmübertragung? Auf den ersten Blick scheint es, als ob er den 23. Psalm nur paraphrasiert, also mit etwas anderen Worten nachdichtet. Aber in jede Strophe des Liedes sind eigene Gedanken eingeflochten, die den Psalm evangelisch auslegen. Die Bilder des Psalmes beschreiben die Lebenswelt der Menschen in Israel - die grüne Weide und das frische Wasser, das duftende Öl auf dem Haar, der volle Becher und der reich gedeckte Tisch. Es sind Bilder, die auch uns modernen Menschen sofort einleuchten und sicher bei uns die gleichen Assoziationen wecken wie bei den Sängern des Psalms damals. Musculus deutet diese Alltagsbilder als Allegorien des Glaubens und vermittelt dadurch seine protestantische Lehre.

Das wohlschmeckende Gras macht nämlich nicht körperlich satt. Es ist das Wort Gottes, von dem Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht” (Matthäus 4,4). Die größte Errungenschaft der Reformation war es, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen und damit das Wort Gottes den Gläubigen unmittelbar zugängig zu machen. Damit wurden sie zu eigenem Denken und Urteilen befähigt und ermutigt. Heute, wo die Flut von Wörtern, die täglich auf uns einstürzen, das Wort Gottes zudeckt, wird diese Errungenschaft kaum noch wahrgenommen und geschätzt.
Weil es um diese reformatorische Errungenschaft geht, beginnt Bachs Vertonung des Chorals nicht als Pastorale, die das Hirtenleben verklärt. Sondern als vom Chor gesungenes Bekenntnis zu dem Herrn, der uns sein Wort gegeben hat.

Auch in der zweiten Strophe deutet Musculus das Gegenständliche ins Geistliche: Bei ihm ist das Wasser nicht frisch, wie es im Psalm heißt, sondern rein, weil es sich beim Wasser um den Heiligen Geist handelt. Auch das eine wichtige Entdeckung der Reformation: Der Heilige Geist wird nicht von der Kirche verwaltet, und er befähigt nicht nur den Klerus, der sich durch seine Weihe von den Gläubigen komplett unterscheidet. Sondern die Taufe schenkt jedem Menschen in gleicher Weise den Geist, der in ihnen den Glauben weckt und sie zum allgemeinen Priestertum beruft. Der Geist Gottes macht alle Menschen gleich - gleich unmittelbar zu Gott, ohne dass sie eines weiteren Vermittlers bedürfen. Dass der Geist die Gläubigen „ohn Ablass” führt, mag nicht nur bedeuten, dass er es unablässig tut, und dass von Gottes Gebot nichts abgelassen wird. Es mag auch auf den päpstlichen Ablass anspielen, der den Anstoß zur Reformation gegeben hatte.

Johann Sebastian Bach übernahm 200 Jahre später Musculus’ Choral unverändert als Text seiner Kantate - auch der Arien und des Rezitativs, was eher ungewöhnlich ist. Zwei Jahrhunderte nach der Reformation ist die reformatorische Entdeckung des Wortes und des Geistes Gottes kein Aufreger mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Deshalb legt Bach den Schwerpunkt darauf, die Bildsprache des Psalms musikalisch umzusetzen. Aber trotzdem komponiert Bach für die zweite Strophe kein Forellenquintett. Es bleibt ihm bewusst, dass das Wasser ein Bild für Gottes Geist ist. Und so plätschert die Arie des Alt nicht dahin, sondern vermittelt das Ergriffensein vom Geist Gottes.

Das Wort Gottes wird von Musculus in der dritten Strophe wieder aufgenommen als Tröster in Verfolgung, Leiden und Trübsal. Er vergleicht es mit dem Stecken, den der Hirt nicht dazu benutzt, um die Schafe zu schlagen, sondern um sie damit vor wilden Hunden und Wölfen zu beschützen und mit der gebogenen Spitze, die später die Bischofsstäbe zieren sollte, aus dem Schlamassel zu ziehen. Das Wort Gottes als Stecken und Stab ist eine Stütze und ein Richtscheit, an dem man sich orientiert.
Der Bass malt die Trübsal in einem Arioso so aus, dass wir sie nachempfinden bzw. mit unseren Erfahrungen daran anknüpfen können. Deutlich klingt in der Melodie das Wandern an. Die Wanderung - ein Bild für das Leben. Dass der gute Hirte auf diesem manchmal beschwerlichen Weg an unserer Seite geht und uns tröstet, und dass man sich auf sein Wort verlassen kann, diese Zusage hat die Form eines Rezitativs: Hier spricht nicht ein Mensch von seiner Erfahrung, hier wird Gottes Wort zitiert, auf dass man sich darauf verlasse.

In der vierten Strophe begegnet wieder der Geist, diesmal als Quelle der Freude und Erfüllung. Das hatten Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg oder Hildegard von Bingen schon vor der Reformation erfahren. Aber in der Reformation ist die Gabe des Geistes nicht die unio mystica, die innige, innerliche Vereinigung mit Gott, sondern die Freiheit: Der Geist befreit die Gläubigen aus geistlicher Unmündigkeit zur Freiheit der Kinder Gottes, die über ihren Glauben selbst urteilen, selbst entscheiden. Dieses Gefühl der Freiheit hat, wenn man es zum ersten Mal erlebt, durchaus etwas Ekstatisches. Auch das ist uns im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen; dabei garantiert der Geist, der uns allen gleichermaßen geschenkt ist, nach wie vor unser Bürgerrecht als Christen - nicht nur in der Kirche, auch in der Gesellschaft.
Das Duett von Sopran und Tenor lässt die geistliche Freude spürbar werden. Es weckt Freude in uns, die zum Tanzen animiert - zumindest innerlich. Es ist wichtig, sich nicht nur still zu freuen, sondern dieser Freude Gestalt zu geben durch Gesang oder Bewegung.

In der letzten Strophe schließlich offenbart Musculus, wer der Herr ist, von dem der 23. Psalm spricht: Es ist Christus, der uns als unser Herr von der Herrschaft der weltlichen und geistlichen Herren befreit. Nicht, indem er als Herr an ihre Stelle tritt. Sondern indem er uns die Freiheit der Kinder Gottes schenkt.
Weil Christus nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der Gemeinde zu finden ist, singt wieder der Chor. Und auch das ist ein Bekenntnis: Dass der gute Hirte uns nicht nur im Leben begleitet. Jenseits des Todes wartet neues Leben auf uns. Ein Leben, in dem wir nicht mehr ungegenständlich glauben. Wie der 23. Psalm von realen Erfahrungen spricht, werden wir dann Christus begegnen - und all denen, die uns vorangegangen sind.

Die zentralen und uns lieb gewordenen Texte der Bibel, zu denen der 23. Psalm gehört, sind schön, sagte ich, weil sie für uns lebenswichtige Gefühle ansprechen und die wichtigen Inhalte unseres Glaubens bezeichnen. Nachdem wir die Kantate gehört haben, muss man ergänzen: Sie sind schön, weil sie wahr sind. Diese Wahrheit vermittelt uns die Musik. Denn dass der 23. Psalm von einer Wahrheit spricht, erkennt man nur im Glauben. Wenn aber der Glaube fehlt - oder wenn er abhanden gekommen ist, weil Verfolgen, Leiden, Trübsal und dieser Welt Tücke zu schwer für uns sind, weil Traurigkeit oder Zweifel keinen Platz für den Glauben lassen - dann tritt Bachs Musik für die Wahrheit des Psalms ein. Wo wir nichts mehr begreifen können, da ergreift sie uns, nimmt uns an der Hand und führt uns wie ein verlorenes Schaf dem Hirten entgegen.

Wenn die Wahrheit des Psalms uns überzeugt, finden wir in Bachs Musik auch eine Gleichgesinnte, die uns darin bestärkt, auf dem Weg des Glaubens weiter zu gehen. Dann bringen wir die Schönheit des 23. Psalms auf eine vierte Weise zum Leuchten: Durch unser Leben: Indem wir seinen Worten vertrauen und so ihre Wahrheit bewähren. 

Sonntag, 11. Mai 2025

Die Weisheit tanzt

Predigt am Sonntag Jubilate, 11. Mai 2025, über Sprüche 8,22-36

Die Weisheit spricht: Gott erschuf mich am Anfang seiner Wege, vor seinen Taten, weit davor. Von Ewigkeit her wurde ich eingesetzt, von Anfang an, zur Urzeit der Erde. Vor der Urflut wurde ich geboren, bevor die Quellen Wasser hervorbrachten. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren. Als er die Erde noch nicht gemacht hatte und das Land und die Erdschollen auf dem Festland; als er den Himmel festigte, war ich da, als er den Horizont auf der Oberfläche der Urflut markierte; als er die Wolken oben zusammenballte und die Quellen in der Tiefe füllte; als er dem Meer seine Grenze setzte und das Wasser seinen Befehl nicht überschritt; als er die Grundlage der Erde bestimmte, war ich als Liebling an seiner Seite. Täglich war ich eine Freude, tanzte vor ihm die ganze Zeit über, tanzte auf dem Festland seiner Welt, und die Menschenkinder waren meine Freude.
Nun, Kinder, hört auf mich! Denn selig sind, die sich an meine Wege halten. Hört die Warnung und seid weise und schlagt sie nicht in den Wind. Selig der Mensch, der auf mich hört, täglich an meiner Tür wacht und die Pfosten meiner Tore bewacht. Denn wer mich findet, findet Leben und Gefallen bei Gott. Wer mich verfehlt, verletzt sein Leben. Alle, die mir feind sind, lieben den Tod.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is,” sang die Harfen-Agnes, eine braunschweiger Bänkelsängerin, die sich bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer Gitarre und ihren Liedern ihr Geld verdiente, wie das die Straßenmusiker heute auch noch tun.
„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is,” das ist ein guter Rat für’s Leben. „Helle sein” bedeutet, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dabei achtzugeben, genau hinzusehen und abzuwägen, damit man nicht über’s Ohr gehauen wird, aber auch nicht unter die Räder gerät. „Helle sein” kann jede:r, dafür braucht man keine höhere Bildung (die Harfen-Agnes nicht hatte: sie konnte weder lesen noch schreiben). „Helle sein” ist eine Haltung im und zum Leben: nicht einfach glauben, was andere behaupten, sondern sich ein eigenes Urteil erlauben und zutrauen.
Als Lebenseinstellung kommt das „Helle Sein” der Weisheit nah, von der wir vorhin in der Lesung hörten. Man könnte das Lied der Weisheit ganz gut mit dem Vers der Harfen-Agnes zusammenfassen: „Mensch, sa helle!”

I

Aber was ist Weisheit eigentlich genau? In ihrem Lied stellt sie sich als die vor, die vor aller Zeit bei der Erschaffung der Welt mitwirkte, Gottes Liebling war und Gott mit ihrem Tanz erfreute. Ob Gott bei der anstrengenden Schöpfungsarbeit - es mussten gigantische Wasser- und Landmassen bewegt und riesige Bergmassive eingesetzt werden - Ablenkung und Unterhaltung nötig hatte?
Sich Gott wie einen Baumeister vorzustellen, der Meere ausbaggert, Berge auftürmt, und den Menschen aus einem Klumpen Lehn knetet, macht aus der Schöpfungsgeschichte ein Zerrbild. Die Rede von der Schöpfung will nicht die allzu menschliche Frage beantworten, wie Gott das All und alles, was dazugehört, erschuf.
Dass die Weisheit tanzt, während Gott die Welt erschafft, will vielmehr zeigen: Schöpfung ist ein kreativer Vorgang. So ist auch eine Tänzerin kreativ, ein Musiker, eine Künstlerin. Und dass die Weisheit bei der Schöpfung mitwirkt, soll deutlich machen, dass unsere Existenz nicht beliebig ist. Dass unsere Welt und das Leben auf ihr nicht allein das Ergebnis einer Kette von unglaublichen Zufällen ist, sondern dass Gott diese Welt, dass Gott uns gewollt und ins Leben gerufen hat.
Darum tanzt nicht der Verstand bei Gottes Schöpfung, sondern die Weisheit. Obwohl wir heute mit dem Verstand die Geheimnisse der Natur, der Entstehung des Lebens und der Welt erkunden. Bei der Frage, wie das All und alles entstanden ist, spielt Weisheit für uns keine Rolle. Diese Frage hat mit Wissen zu tun, nicht mit Weisheit.
Für das Wissen haben wir den Verstand, mit dessen Hilfe wir die Gesetze entdecken, denen die Natur unterworfen ist. Mit dem wir Theorien entwickeln und Beobachtungen erklären, die ein normaler Mensch niemals machen können wird. Dafür werden gigantische Maschinen benötigt wie Teilchenbeschleuniger, die ein einzelner gar nicht bedienen kann, und ausgefeilte Teleskope, die im Weltall in eine Zeit zurückblicken, die wir mit unserer Vorstellungskraft nicht mehr erfassen können: 13 Milliarden Jahre.

II 

In der Bibel tanzt die Weisheit, nicht der Verstand die Welt ins Sein. Offensichtlich hat sich seit den Tagen der Bibel etwas verschoben: Die Weisheit spielt heute keine Rolle, das Wissen umso mehr. Wie kommt das, und was bedeutet es?
Wir modernen Menschen konzentrieren uns auf unseren Kopf. Dort sitzt der Verstand, in unserem Gehirn - die Bibel verortete das Denken noch im Herzen, nicht im Kopf. Unser Verstand ist neugierig und wissensdurstig: „Wieso, weshalb, warum?” fragt der Verstand. Wir nehmen Dinge auseinander, um zu verstehen, wie sie funktionieren - und können sie anschließend oft nicht wieder zusammensetzen.
Mit dem Auseinandernehmen, der Analyse, gewinnt der Verstand seine Erkenntnisse: Er zerlegt Wecker, Fahrräder, Motoren; seziert Frösche und Mäuse; löst Sätze und Gedanken in ihre Bestandteile auf, um das Prinzip zu finden, das ihnen zugrunde liegt. Der Verstand ist analytisch: Er zerstört, um zu verstehen.
Die Weisheit sitzt nicht im Kopf, obwohl es sich bei ihr ja auch um ein Denken handelt, sondern im Herzen, wie schon die Bibel meinte. Man erwirbt sie nicht durch zerlegendes Forschen, obwohl ihr auch ein Bildungsweg vorausgeht: Die Herzensbildung. Die funktioniert ein wenig anders als unsere schulische Bildung und passiert eher nebenbei, ohne dass wir es bemerken.

III 

Man kann Weisheit nicht büffeln oder pauken, denn erlerntes Wissen trägt nur wenig zur Weisheit bei. Weisheit erwirbt man, indem man sich auf etwas einlässt, es an sich herankommen und sich davon berühren lässt. Dazu gehört auch eine Neugier - eine Neugier nicht nach Wissen, sondern nach Erfahrung. Wenn der Verstand auf analytischem Wege lernt, indem er auseinandernimmt, was ihn interessiert, erwirbt man Weisheit, indem man auf das hört, das beobachtet, was man kennen lernen will, es heil lässt und es am Leben lässt.
Die Weisheit fragt auch - aber nicht: „Wieso, weshalb, warum?” Die Weisheit interessiert sich für Hinter- und Untergründe, die „Tiefe” oder „Urflut”, wie es im Lied der Weisheit heißt. Die Weisheit fragt den Verstand: „Was machst du mit deinem Wissen? Du hast die Materie untersucht und ihre kleinsten Bausteine, die Atome, gefunden. Du hast entdeckt, dass man sogar die Atome noch spalten kann und dabei gelernt, ungeheure Energien zu entfesseln - zum Guten und zum Bösen.”
Der Verstand antwortet: „Ich will die Welt beherrschen. Wenn ich weiß, wie sie geworden ist, kann ich dieses Wissen nutzen, um über andere zu bestimmen, um Reichtümer zu erwerben und die Welt so zu gestalten, wie es mir gefällt. Eines Tages werde ich zu den Sternen reisen können. Dann entdecke ich neue Welten und Wesen, die ich erobern und beherrschen kann. Dann werde ich auf die Erde keine Rücksicht mehr nehmen müssen. Ich muss nie mehr aufräumen, nichts mehr reparieren, ich kann alles ausbeuten und verbrauchen und die Erde wie einen Apfelgriebsch zurücklassen.”

IV 

Was den Verstand antreibt, ist der Wunsch nach Herrschaft: „Wissen ist Macht” - Macht über die Natur, Macht über die Mitmenschen. Oft verkleidet sich dieser Wunsch in das Gewand der Nächstenliebe: Man forscht, um Krankheiten zu bekämpfen, den Hunger in der Welt zu besiegen. Aber die Ergebnisse der Forschung, obschon mit Steuermitteln bezahlt, kommen den Kranken nicht kostenlos zugute. Die Pflanzen, die auf höhere Erträge optimiert werden, die Dünge- und Pflanzenschutzmittel sollen in erster Linie Gewinne bringen. Die Menschen in den Ländern des Südens können sie sich gar nicht leisten.
Der Hunger in der Welt wird nicht dadurch besiegt, dass man immer ertragreichere Pflanzen züchtet, sondern indem man das Problem der Verteilung löst. Und ob ein Leben gut und sinnvoll ist, hängt nicht am Besitz oder Luxus, an Maschinen und Geräten, die das Leben bequemer machen, sondern es hängt davon ab, wie man sein Leben gestaltet.
Das ist das Feld der Weisheit. Wie sie am Anfang spielerisch-tänzerisch als Gottes Liebling die Welt gestaltete, will sie mit uns unser Leben gestalten. Nicht: Es optimieren, damit wir möglichst schön sind, möglichst viel leisten, möglichst viel verdienen und besitzen. Die Weisheit leitet uns an, zu fragen, was wir wirklich wollen, was uns wirklich wichtig ist, was uns wirklich glücklich macht. Und sie lehrt uns zu sehen, wo das Glück zu finden ist, und dass wir es längst besitzen.

„Die Menschenkinder waren meine Freude”, singt die Weisheit. Die Weisheit ist auf Beziehung aus, und was die Weisheit lehren kann, ist, in Beziehung mit unsren Mitmenschen, in Beziehung zur Natur und unseren Mitgeschöpfen, in Beziehung zu Gott zu leben. Dazu lässt sich die Weisheit ein auf das, mit dem sie in Beziehung treten möchte. Sie nimmt es wahr als Subjekt, von dem sie etwas lernen kann.
Der Verstand geht auf Abstand, löst die Beziehung auf und macht aus dem Gegenüber ein Objekt, das er auseinandernimmt, um zu verstehen, wie es funktioniert. Etwas überspitzt könnte man mit der Weisheit sagen: Der Verstand liebt den Tod. Aber es geht der Weisheit nicht darum, den Verstand zu verteufeln, oder uns vor die Wahl zu stellen: Er oder ich. Wir müssen forschen und fragen - wo wäre die Menschheit, wenn sie es nicht getan hätte?
Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau hat den Kopf als ein Instrument zum Bohren bezeichnet. Wir können nicht anders, wir müssen immer weiter bohren. Müssen wie ein Maulwurf einen Gang nach dem nächsten graben. Doch damit wir nicht blind werden wie Maulwürfe, bringt die Weisheit immer wieder Licht ins Dunkel, indem sie fragt, wohin wir mit unserer Bohrerei wollen, und wohin uns das führen wird.

VI 

„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is.” Die Weisheit lädt uns ein, zu suchen, was dem Leben dient - unserem Leben, dem unserer Mitmenschen, und dem Leben auf unserer Erde. Wenn wir uns verrennen, wenn wir die Erde zerstören, auf der wir leben, erinnert sie uns daran, dass sie Gottes Schöpfung ist, voller Wunder und Schönheit, die von der Weisheit ins Dasein getanzt wurde. 

Sonntag, 4. Mai 2025

Der gute Hirte

 Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 4. Mai 2025, über Johannes 10,11-16.27-30


Liebe Schwestern und Brüder,


wer möchte schon ein Schaf sein - ein Herdentier von geringem Verstand? Aber behütet sein - das möchte man schon. Man genießt es, im Urlaub nicht kochen, nicht putzen, nicht aufräumen und sich auch sonst um nichts kümmern zu müssen. Das fühlt sich an wie eine Rückkehr in die Kindheit, als man sich, wenn es gut ging, auf die Eltern verlassen, sich von ihnen versorgen und ihnen die Entscheidungen überlassen konnte.

Jesus nennt sich “der gute Hirte”. Damit greift er auf ein vertrautes Bild zurück. Zu seiner Zeit waren Hirten allgegenwärtig - man denke nur an die Weihnachtsgeschichte. Doch wenn es auch heute kaum noch Hirten gibt, kann sich jede:r etwas unter einer Hirtin, einem Hirten vorstellen - eben wegen der Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben. Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen sind im Grunde nichts anderes als Hirten - und gute noch dazu (meistens jedenfalls). Sie hüten nicht um des eigenen Vorteils willen, gehen ihren Schäfchen nicht an die Wolle und schon gar nicht ans Leben, sondern trachten nach dem, was das Beste für die ihnen Anbefohlenen ist.

Mit dem Hirten verbindet sich zugleich die Rolle eines Anführers, eines Herrschers. Die römisch-katholische Kirche wählt in den kommenden Tagen einen neuen Oberhirten. In der Bibel werden Anführer wie Mose als Hirten bezeichnet, oder Könige wie David - der ja selbst einmal als einfacher Schafhirte begonnen hatte. Schließlich ist “Hirte” auch eine Bezeichnung für Gott, wie wir es im 23. Psalm gebetet haben: „Der Herr ist mein Hirte.” 

Wenn Jesus sich “der gute Hirte” nennt, schwingt beides mit: dass er es gut mit uns meint, für uns nur das Beste will. Und dass er unser Herr ist, also so etwas wie unser Anführer.
In welchem Verhältnis stehen seine Güte und sein Herrsein zueinander?

Das Verhältnis, in dem Jesus zu den Seinen steht, ist das Kennen: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.” Man sollte meinen, das sei selbstverständlich: Ein Hirte muss seine Schafe kennen - er wird sie kennen, weil er tagtäglich mit ihnen zu tun hat. Für uns sieht ein Schaf wie das andere aus - ein Hirte kann seine Schafe auseinanderhalten und sieht sofort, wenn eines fehlt oder wenn einem Schaf etwas fehlt.

Die Schafe kennen natürlich auch ihren Hirten. Sie wissen, dass sie vor ihm keine Angst zu haben brauchen, dass sie ihm vertrauen können, weil er ihnen helfen wird. Sie kennen ihn besonders gut, wenn er etwas zu Fressen dabei hat - dann kommen sie gelaufen, wenn sie ihn nur von weitem sehen. Und wenn er nach ihnen ruft, hören sie auf seine Stimme. Wenn es die Aufgabe des Hirten ist, zu führen, dann ist es die Aufgabe der Schafe, zu gehorchen. Eine leichte Aufgabe, solange “gehorchen” bedeutet, dass man zur grünen Aue und zum frischen Wasser geführt wird. 

Wenn es einem dabei gut geht und wenn es einem gut tut, fällt gehorchen gar nicht schwer. Darum versprechen alle, die Anführer werden wollen, ihren Schäfchen das Blaue vom Himmel. Sie wissen, wo es langgeht, was Wohlstand bringt und Arbeitsplätze, wie man die Migration eindämmt. Sie ordnen unsere komplizierte Welt, indem sie z.B. dekretieren, dass es nur Männlein und Weiblein gibt, oder der Klimawandel nur eine Erfindung derer ist, die uns das Duschen und Autofahren vermiesen wollen. Damit laufen ihnen die Schäfchen zu, um sich von ihnen führen - um nicht zu sagen: verführen zu lassen.

Auch wenn solche Führer behaupten, gute Hirten zu sein, denen nur am Wohl ihrer Schäfchen gelegen ist - in Wahrheit geht es ihnen um Macht über die Schafe. Und am Ende ziehen sie ihren Schäfchen das Fell über die Ohren - wie ja übrigens auch die Hirten, die diesen Beruf ausüben, ihre Schafe nicht aus Spaß an der Freud oder als Zeitvertreib hüten.

Lassen die Schafe erkennen, dass sie die Absicht der Hirten durchschaut haben, sind die nicht mehr so freundlich. Dann werden andere Töne angeschlagen - und der Gehorsam wird zur Pflicht, wenn nicht sogar zu einer unerträglichen Qual. 

Schafe, die ihren Hirten “kennen”, wissen also im besten Fall, was sie von ihm erwarten können und zu gewärtigen haben. Aber bis ein Schaf erkennt, dass sein Hirte eigentlich ein Wolf im Schafspelz ist, kann es schon zu spät sein.

Um als misstrauisches oder bereits gebranntes Schaf dem Hirten wirklich vertrauen zu können, muss man genau wissen, mit wem man es zu tun hat. Leider sind die meisten Schäflein arglos, und selbst gebrannte Schafe fallen darauf herein, wenn die Wölfe Kreide gefressen haben. Aber sogar wenn sie sich als Wölfe zu erkennen geben und aus ihren Absichten kein Hehl machen, glauben viele Schafe, dass es nicht ihnen an den Kragen gehen wird, sondern den Schafen aus dem anderen Stall - und um die wäre es nicht schade. Dass für einen Wolf alle Schafe gleich sind, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn.

Um als skeptisches Schaf seinem Hirten vertrauen zu können, braucht es mehr als wohlfeile Worte. Jesus spricht vom “Kennen”, und damit meint er ein gegenseitiges Vertrauen: eine Beziehung. Jesu Beziehung zu seinen Schafen entspricht seiner Beziehung zu seinem Vater: „die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt.” Zu Gott hat Jesus eine Beziehung wie der Sohn zum Vater, mehr noch: „Ich und der Vater sind eins.”

Bemerkenswert, dass Jesus sich zuerst nennt und nicht bescheiden dem Vater den Vortritt lässt: „Ich und der Vater”, nicht „Der Vater und ich.” Das ist aber keine Unbescheidenheit, sondern damit zeigt Jesus, dass der Weg zu Gott über ihn führt: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.” Es ist eine Beziehung zu Jesus, dem guten Hirten, nötig, um mit Gott in Beziehung zu sein.

Bei mancher und manchem mag sich jetzt Widerspruch regen: Wieso sollte ich keinen direkten Draht zu Gott haben? Der Widerspruch erledigt sich, wenn man überlegt, wie man zum Glauben kam. Den Glauben findet man nicht auf der Straße, auch fällt er nicht vom Himmel - obwohl einem das so vorkommen mag. Zum Glauben findet man durch die Gemeinde, die diesen Glauben lebt und vermittelt - im Bild gesprochen: durch die Herde und in der Herde der Schafe. Und der gute Hirte, Jesus, meint es nicht nur gut mit den Schafen, ist nicht nur ihr Anführer. Er ist selbst ein Schaf geworden: „Siehe, das ist Gottes Lamm,” sagt Johannes. Jesus steht der Gemeinde nicht nur vor, er geht ihr nicht nur voran, er ist auch ein Teil von ihr: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” Dadurch unterscheidet sich Jesus von allen anderen Anführern, die gern unsere Hirten wären: Er steht nicht über uns, er geht mit uns.

Die Zeitgenossen Jesu warteten auf den Messias. Sie hofften, er wäre es und wünschten, er würde diese Rolle annehmen und das Reich Gottes aufrichten, wie es die Propheten angekündigt hatten. So suchen Menschen zu allen Zeiten nach einem Anführer, der ihre Welt zum besseren verändert. Nicht, weil sie nicht selbst entscheiden, nicht selbst für sich sorgen könnten. Sondern weil sie auf ein Wunder warten: Das Wunder, dass Ordnung in diese unübersichtliche Welt und in unser chaotisches Leben kommt. Das Wunder, dass wieder heil wird, was Menschen an Gottes Schöpfung zerstört haben. Das Wunder von Frieden und Wohlstand ohne Mühe, ohne Kosten und ohne Verzicht. Kein Mensch kann diese Wunder vollbringen. Aber weil sie so gerne Anführer sein möchten, und weil wir es so gerne glauben möchten, versprechen uns unsere Anführer diese Wunder - und dafür wählen wir sie. Kurz danach sind wir dann enttäuscht, dass sie, wie alle anderen, keine Wunder vollbringen konnten.

Diese Enttäuschung erlebt man auch in der Beziehung zu Gott. Obwohl man es besser weiß, hofft man für sich auf ein Wunder. Darauf, dass Gott mir zuliebe die Naturgesetze für einen Moment außer Kraft setzt, mir zuliebe einmal in den Lauf der Dinge eingreift. Und man ist gekränkt, dass er das nicht tut, und schließt daraus, dass Gott uns nicht lieb hat.

Diese Kränkung erleben auch Kinder, wenn sie entdecken, dass ihre Eltern nicht alles wissen, nicht alles können, im entscheidenden Moment einmal nicht da sind. Dass auch sie müde werden können, Fehler machen, schwach sind. Zum Erwachsenwerden gehört, über diese Kränkung hinweg zu kommen, indem man erkennt, dass wir alle “nur” Menschen sind, alle unsere Grenzen und Schwächen haben. Und dass unsere Wünsche und Phantasien über uns und andere immer wieder auf die harte Wirklichkeit treffen und daran zerschellen.

Im Menschen Jesus begegnet uns Gott. Wenn wir auf das Kreuz blicken, erkennen wir, dass Gott nicht in den Lauf der Dinge eingreift, die Welt nicht zu unseren Gunsten verändert. Wir müssen unser Leben leben, etsi Deus non daretur, als gäbe es Gott nicht. An der Auferstehung erkennen wir, dass Gott immer für eine Überraschung gut ist. Und dass, was wir uns von Gott vorstellen können, was wir über ihn denken, Gottes Wirklichkeit nicht zu erfassen oder gar zu begreifen vermag. 

Die Zeitgenossen Jesu hofften, er sei der Messias, der Gottes Reich auf Erden aufrichtet, und wandten sich enttäuscht von ihm ab, weil er es nicht tat. Aber Jesus hat Gottes Reich aufgerichtet. Seite Zeitgenossen begriffen es nicht. Sie waren in ihren Träumen und Phantasien gefangen und konnten die Wirklichkeit nicht sehen. Gottes Reich beginnt da, wo der Mensch nicht des Menschen Wolf ist. Wo zwei oder drei zusammenkommen nicht, um über einen zu lästern, der nicht da ist, sondern um Gott die Ehre zu geben. Jesus, der gute Hirte, möchte keine dummen Schafe, die ihm blindlings hinterherlaufen. Jesus hütet uns so, dass wir selbst zu Hirtinnen und Hirten werden, die Verantwortung übernehmen, für ihr Leben und für das ihrer Mitmenschen, für ihre Welt und für Gottes Schöpfung, unsere schöne, wunderbare Erde.