Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2025, über Matthäus 9,35-10,10
Jesus zog umher durch alle Städte und die Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen. Wie er aber das Volk sieht, empfindet er Mitleid mit ihnen, denn sie waren müde und matt wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da spricht er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber es sind wenige Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter für seine Ernte aussendet. Und er berief seine zwölf Jünger und gab ihnen Macht, unreine Geister auszutreiben und jede Krankheit und jedes Gebrechen zu heilen.
Die Namen der zwölf Ausgesendeten sind: als erster Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn Zebedäus’, und sein Bruder Johannes; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon aus Kana und Judas, der Mann aus Kariot, der ihn dann auslieferte.
Diese Zwölf sandte Jesus aus und befahl ihnen: Weicht nicht ab auf den Weg der Heiden und geht nicht in die Stadt der Samariter. Geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Wenn ihr geht, verkündet: Das Himmelreich ist nahe! Heilt Kranke, erweckt Tote, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt es. Gewinnt weder Gold, noch Silber-, noch Kupfergeld für euren Gürtel. Benutzt keinen Rucksack für die Reise, kein zweites Gewand, keine Schuhe, keinen Stock; denn wer arbeitet, hat sich seinen Unterhalt verdient.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Gewinnt weder Gold, noch Silber-, noch Kupfergeld für euren Gürtel. Benutzt keinen Rucksack für die Reise, kein zweites Gewand, keine Schuhe, keinen Stock.” Radikal, was Jesus seinen Jüngern da abverlangt: Sie sollen mit leeren Taschen und leeren Händen in die Welt hinaus gehen und dürfen dabei nicht einmal das mitnehmen, was man vernünftigerweise für eine Reise einpackt: Geld, um sich etwas zu Essen kaufen zu können; einen Rucksack, um seine Ausrüstung zu transportieren; Wäsche zum Wechseln; feste Schuhe für die Wanderung und einen Stock, um sich gegen streunende Hunde zu wehren. Auf all das sollen seine Jünger verzichten, nichts davon dürfen sie mitnehmen. Ist es nicht verantwortungslos von Jesus, sie so mittel- und schutzlos auf die Reise zu schicken? Ist es nicht eine unzumutbare, ja, unerfüllbare Aufgabe für die Jünger, so unvorbereitet und ungesichert zu den Menschen zu gehen? Obwohl - oder vielleicht gerade, weil - es so schwer ist, fühlten sich manche herausgefordert, es den Jüngern Jesu gleich zu tun. Sie verzichteten freiwillig auf jeden Besitz; als Mönch oder Nonne gehörte ihnen nicht einmal die Kutte, die sie auf dem Leibe trugen. Aber sie lebten gemeinsam an einem sicheren und einigermaßen komfortablen Ort, dem Kloster. Dort gab es eine Küche, eine Vorratskammer, einen Garten, eine Bibliothek, eine Wärmestube, Schlafräume und Mauern, die die Klosterbewohner vor der Außenwelt beschützten. Nicht einmal die, die ihr Leben ganz und gar dem Glauben verschrieben hatten, mussten auf so vieles verzichten, wie Jesus es von seinen Jüngern verlangt.
Jesus sendet also seine Jünger aus, damit sie den Menschen eine gute Nachricht bringen: „Das Himmelreich ist nahe.“ Vor allem sollen sie selbst diese gute Nachricht sein: Heilen, Tote erwecken, rein machen und von Dämonen befreien. Jesus allein kann das nicht schaffen. Er denkt dabei wohl schon an die Zeit, in der er nicht mehr da sein wird: die Zeit der Gemeinde. Dafür beruft er die Zwölf. Doch zwölf sind noch zu wenig. Jesus fordert dazu auf, um weitere Erntehelfer zu bitten. Diese Erntehelfer: Das könnten wir sein, wenn wir uns angesprochen fühlen. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt ist erst einmal ein Anfang gemacht.
Zu diesem Anfang werden die Jünger mit leeren Händen ausgesandt. Sie dürfen nichts mitnehmen, nicht einmal das Nötigste. Wenn wir anderen helfen müssten, hätten wir doch wenigstens einen Erste-Hilfe-Koffer dabei - vom ärztlichen Know-How ganz zu schweigen. Jesus lässt Leute, die nichts gelernt haben, als zu fischen oder Zoll einzutreiben, auf Menschen los, die professionelle Hilfe brauchen. Er vertraut nicht auf medizinisches Wissen - das es auch zu seiner Zeit schon gab -, auf Medikamente und Hilfsmittel. Er vertraut auf die Macht des Geistes. Offenbar ist medizinische Hilfe nicht vonnöten. Die verlorenen Schafe liegen nicht müde und matt da, weil sie sich verletzt oder etwas gebrochen hätten. Es geht bei ihnen nicht um körperliche Gebrechen; vielmehr geht es darum, den Müden und Matten Hoffnung zu geben und eine Perspektive: Ihre Seele zu heilen.
Hoffnung macht die Botschaft: „Das Himmelreich ist nahe.” Die Menschen erfahren die Nähe des Himmelreiches dadurch, dass es ihnen besser geht. Wo sie Jesus begegnen, finden sie Heilung, fassen sie Mut, haben sie wieder eine Lebensperspektive. Wenn Jesus vom Himmelreich spricht, meint er also nicht ein fernes Paradies, in das man nach dem Tod gelangt. Sondern Gottes Wirklichkeit, die jetzt und hier Leben verändert, wenn Gott den Menschen nahe kommt. Damit Menschen diese Wirklichkeit Gottes erleben, muss Gott ihnen nahe kommen können: Sie müssen ihn an sich heranlassen. Jesus erreicht das, indem er sie heilt - sich ihnen körperlich nähert, sie berührt, ihnen seine Hände auflegt. Und indem er ihnen sein Herz zuneigt - ihnen seelisch nahe kommt, weil er Mitleid mit den Menschen hat und barmherzig ist, und die Menschen das spüren. Barmherzigkeit äußert sich in Freundlichkeit, Zuwendung, Interesse: Das Himmelreich ist nahe, wo Menschen solche Barmherzigkeit nicht verweigert wird.
Wenn Jesus Christus den Menschen körperlich und seelisch nahe ist, kommt ihnen Gott selbst nah - auch wenn sie das in diesem Moment nicht erkennen. Wenn seine Jünger zu den Menschen gehen, erleben sie Gott auf andere Weise - die Jünger sind ja „nur” Menschen, nicht wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich, wie Jesus es ist. Auch die Jünger legen ihnen die Hände auf; sie neigen ihnen, wie Jesus, ihr Herz zu. Aber nicht in den Jüngern begegnet ihnen Gottes Nähe. Sondern über einen Umweg: Dadurch, dass die Jünger nichts bei sich haben. Die Jünger sind bedürftig - sie besitzen nichts, müssen alles, was sie brauchen, erbitten. Jesus lässt sein Evangelium verkündigen durch die Bedürftigkeit seiner Boten. Bevor sie anderen helfen, bitten sie um Hilfe. Dadurch bringen sie die Botschaft vom Himmelreich. Diese Botschaft besteht nicht so sehr in Worten, sondern in Taten. Taten, die wir nicht als solche ansehen würden: Die Jünger heilen nicht, indem sie den Menschen etwas geben - Medikamente, ein Pflaster oder ein paar freundliche Worte. Sondern indem sie etwas von ihnen nehmen.
Die Leute, die uns auf der Straße um Geld anbetteln; die auf dem Boden sitzen und flehend die Hand hinhalten oder einen Pappbecher vor sich stehen haben, sind nicht sehr viel anders als die Menschen zur Zeit Jesu, die ihn um Heilung anflehten. Vielleicht finden Sie den Vergleich unpassend, weil die einen in der Bibel stehen und die anderen mehrheitlich das erschnorrte Geld in Alkohol umsetzen. Aber von den zehn Aussätzigen, die Jesus rein machte, kam auch nur einer zu ihm zurück, um sich zu bedanken. Selbst in der Liste der zwölf Jünger taucht der Verräter auf, Judas Isch-Kariot, der Mann aus Kariot. Erwähnung in der Bibel macht einen noch nicht zum Heiligen.
Die Jünger sprechen die Menschen, zu denen Jesus sie sendet, auf die selbe Weise an wie die Hilfsbedürftigen, die Jesus um Hilfe anflehten, wie die Bettler in unseren Fußgängerzonen. Wer sich erinnert, wie oft er oder sie an solchen Menschen vorbeigeht, weiß, wie schwer diese Aufgabe für die Jünger ist. Nur, wer angesehen wird, kann Mitleid erregen und Barmherzigkeit erfahren. Barmherzigkeit äußert sich in Freundlichkeit, Zuwendung, Interesse: Das Himmelreich ist nahe, wo Menschen solche Barmherzigkeit nicht verweigert wird.
Zuerst einmal gehen also die in Vorleistung, denen geholfen werden soll - was für eine originelle Idee. Spontan würde man sagen: Da stimmt doch was nicht! Auf der einen Seite stehen die Helfer:innen, auf der anderen die, denen geholfen wird. Die einen geben, die anderen nehmen. Die Bedürftigen können doch nicht die Helfenden, und die Helfenden nicht die Bedürftigen sein!
Doch die Jünger Jesu stellen gerade dadurch den Kontakt her, dass sie Mitleid erregen. So mittellos, wie Jesus seine Jünger aussendet, müssen sie erst etwas bekommen, damit sie anderen etwas geben können. Sie helfen, indem sie etwas von denen nehmen, zu denen sie gesandt sind. Sie nehmen Hilfe, Kleidung, Essen, Unterkunft von diesen Menschen an. So entsteht ein Kontakt. Man sieht sich in die Augen. Man berührt sich. Mit einem Mal wird man angerührt von etwas, das man noch nicht versteht. Man kommt miteinander ins Gespräch und bemerkt, dass der Bedürftige viel reicher ist, als man dachte; dass er, dass sie etwas zu geben hat, das viel, viel mehr bedeutet als Kleidung, Essen oder Unterkunft. Plötzlich spürt man, wie einsam man war, und wie gut es ist, zu teilen und dadurch Gemeinschaft zu erleben. Eine Gemeinschaft, die mehr ist als die Gegenwart eines anderen Menschen. Denn da ist noch ein Dritter im Bunde. Der Dritte, der mit diesem Fremden mitgekommen ist und der dableibt, wenn der Fremde wieder gegangen ist.
Damit Menschen Gottes Wirklichkeit erleben, muss Gott ihnen nahe kommen können: Sie müssen ihn an sich heranlassen. Man lernt, Gott an sich heranzulassen, wenn man Menschen die Barmherzigkeit nicht verweigert. Dann kann es passieren, dass man Gott ganz nahe kommt. „Was ihr einer oder einem dieser meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan,” sagt Jesus. Darum mahnt auch der Hebräerbrief: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.” Man weiß es leider erst hinterher, dass man einen Engel getroffen hat. Darum ist es so wichtig, die Augen offen zu halten, hinzusehen und sich zu Mitgefühl und Barmherzigkeit bewegen zu lassen - vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.