Predigt zum 12.Sonntag nach Trinitatis, 7.9.2025, über Apostelgeschichte 3,1-10
Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel
um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
Und es wurde ein Mann herbei getragen, lahm von Mutterleibe;
den setzte man täglich vor die Tür des Tempels,
die da heißt die Schöne,
damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
Als er nun Petrus und Johannes sah,
wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
Und er sah sie an und wartete darauf,
dass er etwas von ihnen empfinge.
Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht;
was ich aber habe, das gebe ich dir:
Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.
Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,
er sprang auf, konnte gehen und stehen
und ging mit ihnen in den Tempel,
lief und sprang umher und lobte Gott.
Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
Sie erkannten ihn auch, dass er es war,
der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen
und um Almosen gebettelt hatte;
und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das,
was ihm widerfahren war.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Blicke am schönen Tor”
könnte man diese Geschichte überschreiben.
„Blicke am schönen Tor:”
Was schwingt dabei nicht alles mit!
Zwei Augenpaare, die sich treffen, ineinander versinken.
Schönheit, die befangen macht, die fesselt,
man kommt nicht davon los.
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft,
einer romantischen Liebesgeschichte.
Von all dem kann in der Geschichte
von der Heilung des Gelähmten keine Rede sein.
Und doch ist es eine Liebesgeschichte.
Das zeigt sich allerdings erst auf den zweiten Blick.
I
Von Blicken handelt diese Geschichte.
Blicke, die gewechselt werden zwischen dem Gelähmten,
der zum Betteln ans „schöne Tor” des Tempels hinausgetragen wurde,
und Petrus und Johannes.
Er war nicht zu übersehen, der Gelähmte am „schönen Tor”.
Der Kontrast könnte größer nicht sein:
Hier das prunkvoll verzierte „schöne Tor”, dort der Gelähmte.
Kein schöner Anblick, wie er da auf dem Boden saß, im Staub.
Nicht durchs Tor ging wie alle anderen,
die zum Gottesdienst wollten und laufen konnten.
Wer genauer hinsah, bemerkte seine verkrümmten Füße.
Das Andere fällt auf.
Das, was nicht so ist wie bei den meisten:
Ein Mensch mit einer anderen Hautfarbe fällt auf,
mit einem sichtbaren Muttermal.
Jemand mit einer Behinderung fällt auf,
die oder der sich anders bewegt, als man es erwartet.
Da guckt man hin, ganz ungewollt.
Ganz von selbst dreht sich der Kopf, starren die Augen,
bis man merkt, was man da tut, und den Blick verschämt abwendet.
Aber der oder die so Angestarrte hat es schon bemerkt.
Hat den Blick auf sich gefühlt,
der eine:n das Anderssein spüren lässt.
Wir kennen diesen Blick.
Wir kennen ihn aus eigener Erfahrung.
Vom Hinstarren auf Ungewohntes, Auffälliges, Anderes.
Und vom angestarrt Werden.
Wir kennen diesen Blick, wir haben ihn verinnerlicht.
Wir leben mit ihm, fühlen ihn jederzeit auf uns,
auch wenn niemand da ist, der uns ansehen könnte:
Der Blick, der uns taxiert, ob wir der Norm entsprechen.
Wir vergleichen uns mit den Vorbildern
aus den Social Media, aus dem Fernsehen, aus Zeitschriften:
Was trägt man, und was nicht?
Wie muss man aussehen, wie muss man sein,
um als „normal” zu gelten, um dazuzugehören?
Wir vergleichen unseren Körper mit Körpern,
die ebenmäßiger, schöner, gepflegter,
schlanker, trainierter, jünger erscheinen als unsere.
Und fallen dabei oft auf nachträglich bearbeitete,
„gefotoshoppte” Bilder herein.
II
Der Gelähmte aus unserer Erzählung sitzt am „schönen Tor” des Tempels.
Bis heute weiß niemand, wo dieses Tor lag,
wenn es das überhaupt gegeben hat.
Der Tempel in Jerusalem ist ja zerstört,
und nirgendwo sonst wurde der Name „schönes Tor” überliefert.
Vielleicht kam es Lukas, dem Erzähler unserer Geschichte,
gar nicht auf eine genaue Ortsangabe an,
sondern auf die Vorstellung, die sich mit dem Wort „schön” verknüpft.
Wie stellen wir uns den Bettler am schönen Tor vor?
In unserer Phantasie sehen wir keinen Adonis,
keinen strahlenden Jüngling,
sondern ein Häuflein Elend am Boden sitzen.
Sonst hätte er als Bettler keinen Erfolg.
Würde er kerngesund und gepflegt aussehen,
bekäme er nicht einmal eine Kupfermünze.
Das „schöne Tor”, das über ihm aufragt,
und der Bettler am Boden bilden einen Gegensatz.
Sein Anderssein, durch die Blicke der anderen aufgedeckt,
steht in starkem Kontrast zum schönen Tor,
das durch seine Schönheit besticht.
Was anders ist, ist nicht schön.
Was anders ist, ist nicht schön.
Man kann und muss diesem Satz widersprechen.
Auch und gerade das Andere ist schön.
Aber nicht auf den ersten Blick.
Der erste Blick erwartet das Gewohnte, das Bekannte
und stolpert sozusagen über das Ungewohnte.
Dem ersten Blick erscheint das Ungewohnte anders, fremd,
oft sogar befremdlich, und deshalb nicht schön.
Der zweite Blick entdeckt die Schönheit des Fremden.
Man muss erst den Mut finden, es zu sehen.
Bei etwas, das man noch nicht kennt, das man nicht versteht,
orientiert man sich am Geschmack der anderen,
der Mehrheit, oder der sogenannten „Experten”.
Man entdeckt bei sich die Tendenz, das schön zu finden,
was auch alle anderen schön finden
oder Autoritäten für „schön” erklären.
Das, was alle auf Anhieb schön finden,
was keinen Widerspruch oder Widerwillen erzeugt,
entpuppt sich meist als Kitsch oder, schlimmer noch,
als etwas durch und durch Spießiges.
Wie z.B. die Skulpturen des Künstlers Arno Breker,
der während der NS-Zeit dem „Herrenmenschen“,
den die Nazis phantasierten, eine Gestalt gab:
Makellose, muskulöse, übermenschliche Körper,
wie man sie heute in den Social Media
und in den verschiedenen Darstellungen von „Helden”
in Comics und Filmen findet.
Das war die offizielle Kunst des Hitlerstaates.
Alles andere war in den Augen der Machthaber
und der Massen, die ihnen nachliefen und anhingen, keine Kunst.
Wer nicht diesem Herrenmenschentum huldigte,
wer den Menschen in seiner Schwachheit, seinem Leiden,
seiner Gebrochenheit zeigte;
wer zeigen wollte, wie schön das Andere, Fremde, Befremdliche sein kann,
wurde für krank erklärt, als „entartet” diffamiert.
Solche Werke wurden neben den Bildern psychisch Kranker ausgestellt,
verspottet, und schließlich verboten.
Sie waren nicht „schön” im oberflächlichen Sinn.
Sie verunsicherten die Betrachter, man verstand sie nicht.
Das glatte, oberflächlich Schöne der Brekerschen Skulpturen
war dagegen so viel einfacher und eingängiger.
Heute ist der Geschmack nicht mehr gleichgeschaltet.
Heute sind alle Kunstrichtungen erlaubt.
Und doch, wenn man uns fragte, was wir als „schön” empfinden:
Würden wir da nicht auf die Mannequins in den Illustrierten verweisen,
auf die Film- und sonstigen Stars und die,
die auf TikTok und Instagram ihre makellosen,
schlanken oder durchtrainierten Körper zeigen?
Würden wir nicht von uns weg weisen,
die wir diese perfekten Körper in aller Regel nicht besitzen?
Und damit auch von denen weg weisen, die auf dieser,
von der Mode und der Werbung aufgestellten Skala,
das andere Ende markieren: den Menschen, die „anders“ sind?
III
Am „schönen Tor” werden Blicke gewechselt.
Petrus blickt den Bettler an.
Nicht heimlich und verstohlen, sondern ganz offen.
Er fordert den Bettler sogar auf, ihn und Johannes anzusehen,
den Blick zu erwidern: „Sieh uns an!”
Dieser Blick des Petrus ist anders
als das heimliche oder dreiste Beobachten und Begaffen
Wer einen anderen Menschen anstarrt,
betrachtet ihn wie einen Gegenstand.
Man empfindet das als unangenehm.
Fühlt sich von den Blicken anderer geradezu ausgezogen.
Hat das Gefühl, dass der Körper taxiert wird wie ein Stück Fleisch.
Petrus dagegen taxiert nicht, sondern sucht den Kontakt.
Er ignoriert die Oberfläche und nimmt den Menschen wahr:
den Menschen, wie er da vor ihm im Staub hockt.
Er starrt nicht auf seine unnormalen, verkrümmten Füße.
Er blickt ihm in die Augen.
Der Beobachter, der Gaffer will nicht wirklich etwas vom anderen wissen.
Er schaut nur hin, weil der andere anders ist.
Petrus sieht hin und nimmt Kontakt auf.
Damit bleibt der andere kein Fremder, er wird Mitmensch.
Der Bettler weiß das zu würdigen, erwidert den Blick,
wenn auch zunächst in der Hoffnung, etwas Geld zu bekommen.
Petrus weiß das und rechtfertigt sich sogar,
dass er ihm das Erhoffte, ein Almosen, nicht geben kann.
Er hat viel mehr zu geben.
Mehr, als der Bettler sich jemals erträumte.
Mehr als die größte Gabe, die er und wir uns vorstellen können,
Silber und Gold.
„Silber und Gold habe ich nicht”, sagt Petrus;
„was ich aber habe, das gebe ich dir.”
Da passiert etwas zwischen den beiden, als ihre Blicke sich treffen.
Im Film „Casablanca” sagt Rick zu Elsa:
„Ich schau dir in die Augen, Kleines.”
Dem „kleinen Prinzen” erzählt der Fuchs beim Abschied,
er habe ihn „gezähmt”.
Wie immer man es nennen will:
Sich in den Augen eines anderen zu spiegeln,
ist etwas ganz besonders Schönes und Wertvolles,
mehr wert als Silber und Gold.
Und hier geschieht noch mehr:
Der Gelähmte wird nicht nur als Mitmensch wahrgenommen,
darf sich nicht nur in den Augen von Petrus spiegeln;
er wird geheilt.
Ein Wunder geschieht. Seine verkrümmten Füße strecken sich.
Er kann stehen und dann sogar „springen wie ein Hirsch” (Jes 35,6).
IV
Das ist der Moment,
wo man aus dieser Geschichte springen oder fallen kann.
Ein Wunder - zu schön, um wahr zu sein!, denkt man.
Mag sein, dass heute nicht mehr die Zeit für Wunder ist.
Mag sein, dass dieses Wunder vor allem erzählt wurde,
um deutlich zu machen: Die Sache Jesu geht weiter,
und das Reich Gottes, das er ankündigte,
beginnt tatsächlich unter uns anzubrechen.
Vielleicht aber geschah wirklich ein Wunder.
Ein Wunder, das in dem Namen besteht, den Petrus nennt:
„Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!”
Petrus gibt dem Gelähmten den Namen Jesu Christi.
Und er, Jesus, bewirkt das Wunder seiner Heilung.
Was aber ist es, das Petrus ihm damit gibt?
Im Namen Jesu Christi werden Aufmerksamkeit und Zuwendung,
die Petrus diesem Menschen schenkt,
zur Aufmerksamkeit und Zuwendung Jesu selbst.
Mit den Blicken des Petrus blicken Jesu Augen
voller Liebe den Gelähmten an.
Durch Petrus erfährt und erlebt der Gelähmte,
dass Gott ihm nah ist und ihn liebt.
Erfährt es nicht als Information
wie das auf die Straße gesprühte „Jesus liebt dich”.
Sondern als Tat: durch die Zuwendung,
zu der Petrus von Jesus bewegt wurde.
Im Hinsehen und in-die-Augen-Sehen,
das so anders ist als das unbeteiligte Starren und Gaffen,
das so viel mehr wert ist als Gold und Silber,
und das so gut tut.
V
„Blicke am schönen Tor” -
auf den ersten Blick eine Wundergeschichte,
die uns nicht mehr anzugehen scheint,
weil die Zeit der Wunder vorüber ist.
Auf den zweiten Blick wird sie zu einer der unzähligen Geschichten,
die von der Liebe Gottes zu uns Menschen erzählen.
Einer Liebe, die uns bedingungslos annimmt, wie wir sind.
Die unsere Schönheit erkennt
und uns selbst erkennen lassen will.
Einer Liebe, die uns lehren will,
unser Anderssein zu schätzen,
auf dass wir die anderen und ihr Anderssein zu schätzen lernen
und ihnen im Namen Jesu die Liebe schenken, die sie verdienen.