Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2016, über Johannes 3,16-21:
Gott liebte die Welt über alle Maßen. Das sieht man daran, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit keiner, der an ihn glaubt, zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat.
Gott schickte seinen Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt verurteilte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet würde. Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, ist schon verurteilt, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Darin aber liegt der Unterschied: Das Licht kam zur Welt, aber die Menschen liebten statt des Lichts die Finsternis, denn ihre Taten waren schlecht. Jeder, der Schlechtes tut, hasst das Licht und scheut es, damit seine Taten nicht ans Licht kommen. Wer aber wahrhaftig handelt, geht zum Licht, damit seine Taten sichtbar werden, weil sie durch Gott gewirkt sind.
(Eigene Übersetzung)
Liebe Schwestern und Brüder,
neulich habe ich mein Lieblingsbuch verliehen. Ich bekam es mit gebrochenem Rücken, Eselsohren und Kaffeeflecken zurück. Was habe ich mich geärgert! Wie kann man nur so liederlich mit fremden Sachen umgehen?! Das, was anderen gehört, sollte man sorgsamer behandeln als das eigene. Aber meistens ist es andersherum. Und gerade das, was allen gehört - der öffentliche Raum, unsere Umwelt - wird am wenigsten geachtet. Dabei müsste es doch eigentlich umgekehrt sein: Je mehr Menschen eine Sache besitzen, desto sorgsamer muss man damit umgehen, wenn sie einem anvertraut wird. Also müsste man den öffentlichen Raum, die Umwelt eigentlich am aller-allervorsichtigsten behandeln, denn sie gehört uns allen.
I
Gott liebt diese Welt über alle Maßen.
Was Gott wohl empfindet, wenn er sieht, wie wir mit seiner Welt umgehen?
Was empfindet Gott, wenn er die zerbombte Stadt Aleppo sieht.
Was denkt Gott über den Fahrer des Lastwagens, der in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin gerast ist und so viele Menschen getötet und verletzt hat.
Was denkt Gott darüber, wie wir Wasser und Lebensmittel auf der Welt verteilen; wie Wohlstand und Reichtum auf der Welt und in unserer Gesellschaft verteilt sind.
Was empfindet Gott angesichts der Menschen, die ihre Heimat aus Angst vor dem Krieg verlassen. Weil sie und ihre Kinder dort keine Zukunft haben. Weil es dort nicht einmal das gibt, was Martin Luther zum täglichen Brot zählt: „Fromme und getreue Oberherren. Gute Regierung. Friede. Gesundheit. Ehre.“ Und man darf ergänzen: Schulen. Die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten. Gleichberechtigung. Meinungsfreiheit. Religionsfreiheit. Eine freie Presse. Eine unabhängige Justiz. Eine Polizei, die sich an Recht und Gesetz hält.
Was denkt sich Gott, wenn er sieht, wie wir mit der Welt umgehen. Was empfindet Gott, wenn er sieht, unter welchen Einschränkungen ihrer Freiheit und ihrer Gesundheit Menschen heute noch leben müssen, im 21. Jahrhundert. Wie sie hungern, wie sie leiden, wie sie zugrunde gehen. Gott, „der seinen einzigen Sohn gab, damit keiner, der an ihn glaubt, zugrunde geht“.
II
Gott leidet.
Gott leidet daran, wie wir mit der Welt umgehen, die er so liebt.
Gott leidet daran, wie wir miteinander umgehen; mit denen, die auch nach seinem Ebenbild geschaffen sind, wie wir. Die nur zufälligerweise nicht hier geboren wurden, zufällig nicht so aussehen wie wir.
Gott leidet und schickt seinen Sohn in die Welt, damit das Leid ein Ende hat. Darum wird in dieser Nacht das Licht geboren, das alle Dunkelheit vertreibt. Die Dunkelheit der Angst. Die Dunkelheit der Gewalt und des Terrors. Die Dunkelheit des Hungers und des Leides. Und die Dunkelheit des Todes.
Dieses Licht ist ganz klein und sehr verletzlich, wie es eben ein Neugeborenes ist. Man muss es beschützen und hegen, damit es nicht verlischt. So, wie das Friedenslicht, das von den Pfadfindern aus Bethlehem hergebracht wurde, in vielen Kirchen und Gemeinden beschützt und gehegt wurde, damit es heute an alle ausgeteilt werden und für alle leuchten kann.
Das Licht, das heute zur Welt kommt, hat nur eine kleine Kraft. Es ist nicht wie die Sonne. Es ist nicht wie der Blitz bei der Explosion einer Atombombe oder beim Aufprall eines Kometen auf die Erde.
Christus, das Licht der Welt, kam nicht auf die Welt, um zu zerstören und zu verurteilen, sondern um zu retten.
Rettung geschieht nicht durch Macht und Gewalt. Christus, der Retter, ist kein Supermann, der mal eben die Naturgesetze außer Kraft setzt, um alles wieder gut zu machen. Immer wieder gibt es Anführer, die sich als solche Supermänner ausgeben und behaupten, sie würden eigenhändig den Karren aus dem Dreck ziehen. Am Ende stellt sich jedes Mal heraus, dass er tiefer drin steckt als vorher …
Rettung geschieht nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch das Gegenteil: durch Ohnmacht und Gewaltlosigkeit. Die Band „Wir sind Helden“ singt das so:
„Die Verletzten sollen die Ärzte sein
Die Letzten sollen die Ersten sein
Sieh es ein: the meek shall inherit the earth“.
Das Kleine, Verletzliche wird uns retten.
Damit es uns retten kann, muss es uns zuerst berühren.
Das tut es, indem es alles auf eine Karte setzt und - - - uns vertraut: Es vertraut sich uns an. Es gibt sich als hilfloses, verletzliches Neugeborenes ganz in unsere Hände. Wenn wir es nicht wärmen, wenn wir es nicht versorgen, dann stirbt es.
Jeden Tag geben sich Menschen in unsere Hand, setzen ihre ganze Hoffnung auf uns. Manchmal merken wir das gar nicht. Manchmal wollen wir es nicht merken. Manchmal sind wir überfordert. Und manchmal brauchen wir selbst jemanden, der uns in den Arm nimmt. Aber trotzdem erhalten wir weiterhin jeden Tag die Chance, von Gott berührt zu werden, wenn wir das Leid, die Bedürftigkeit eines anderen an uns heranlassen.
III
Viele Menschen wollen sich nicht vom Leid anderer berühren lassen. Sie fühlen sich benachteiligt, zu kurz gekommen; sie sehen sich selbst als Leidende, die Hilfe und Zuwendung benötigen. Aus Selbstmitleid verschließen sie die Augen vor den anderen. Aus Enttäuschung können sie das Licht der Weihnacht nicht sehen. Sie stehen im Dunkeln und entscheiden sich für die Dunkelheit, die ihnen wirklicher und mächtiger erscheint als das schwache Licht in einer Futterkrippe.
Wenn man nur noch sich selbst sieht und kein Mitleid mehr empfinden kann, verliert man seine Menschlichkeit. Man wird hart und kalt. Die Dunkelheit, in der man steht, kriecht in einen hinein. Worte und Sätze, die noch vor wenigen Jahren unsagbar schienen, weil sie von der Ideologie des Nationalsozialismus verseucht sind, werden laut ausgesprochen.
Und dann wird auch eine so schreckliche Tat wie der Anschlag von Berlin dazu benutzt, fremdenfeindliche und rassistische Parolen zu verbreiten. Weil man unfähig ist, Mitgefühl zu empfinden.
IV
Weihnachten lockt uns in einen Stall, an eine Futterkrippe, zu einem neugeborenen Kind. Wir sollen, wie die Hirten, dem Kind ins kleine Angesicht sehen und uns überfluten lassen vom Mitgefühl mit diesem kleinen Menschlein. Dazu braucht es nicht viel Phantasie. Mütter und Väter kennen diese Welle der Liebe, die einen überflutet, wenn man seinem Kind ins Gesicht blickt.
Halten wir dieses Gefühl fest.
Halten wir die Erinnerung fest an diese Liebe und Wärme, die uns angesichts eine kleinen Kindes überfluten, und tragen wir sie als Licht in uns.
Das, was wir da empfinden, nennt man Barmherzigkeit: Ein warmes Herz, das überläuft, überquillt vor Liebe und für den anderen nur Glück und Gutes will.
Das ist das Wunder der Weihnacht, das wir mit nach Hause nehmen wie die Flamme des Friedenslichtes, und das uns durch das kommende Jahr begleitet: Aus jedem Menschen blickt uns das Kind in der Krippe an. Jeden Tag des kommenden Jahres erhalten wir aufs Neue die Chance, von ihm berührt zu werden.
Bleiben wir verletzlich.
Bewahren wir unser Mitgefühl.
Seien wir barmherzig.
Amen.