Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021, über Lukas 15,3-10:
Jesus erzählte den Pharisäern und Schriftgelehrten dieses Gleichnis:
Wer unter euch, der 100 Schafe hätte, wenn ihm eines verloren ginge, ließe nicht die 99 in der Wüste zurück und ginge zum Verlorenen, bis er es fände? Und wenn er es findet, legt er es sich voller Freude auf seine Schultern, geht nach Hause und ruft die Freunde und Nachbarn zusammen und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir! Denn ich habe mein verlorenes Schaf gefunden.
Ich sage euch: Solche Freude wird im Himmel sein über einen Sünder, der Reue empfindet, als über 99 Gerechte, die keiner Buße bedürfen.
Oder welche Frau, die 10 Drachmen besitzt, nimmt nicht die Lampe, wenn sie eine verliert, fegt das Haus aus und sucht eifrig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen: Freut euch mit mir, denn ich habe die verlorene Drachme gefunden!
Ebenso, sage ich euch, wird Freude bei den Engeln Gottes sein über einen Sünder, der Reue empfindet.
Liebe Schwestern und Brüder,
was für ein wohltuendes Gleichnis!
Der gute Hirte, der das verlorene Schaf sucht; die gewissenhafte Hausfrau, die nicht eher ruht, bis sie die fehlende Münze gefunden hat. Und die Freude der Engel im Himmel über den Sünder, der Buße tut. Dieses Gleichnis spendet Trost und Zuversicht: Sollten wir einmal verloren gehen, wird der gute Hirte auch uns suchen, und die Freude wird groß sein, wenn wir wieder zuhause sind.
Sollten wir einmal verloren gehen … Aber wir sind nicht verloren gegangen. Wir sind alle hier. Vielleicht fehlt jemand, den wir gern hier unter uns sähen, jemand, den wir heute vermissen. Aber wir sind da. Wir können nicht die verlorenen Schafe sein, von denen Jesus spricht. Gewiss, „sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten”, schreibt Paulus (Römer 3,23). Vor Gott sind alle Menschen Sünderinnen und Sünder; das macht unser Menschsein aus. Wenn wir ohne Sünde wären, wären wir wie Gott. Wir sind nicht perfekt, wir machen Fehler, wir haben uns schuldig gemacht gegenüber Gott und Mitmenschen, und wir werden es immer wieder tun. Aber im Moment, in diesem Augenblick, sind wir es nicht. Und wir sind es auch sonst nicht, auch wenn wir Fehler machen. Denn wir sind durch den Glauben gerechtfertigt. Dafür ist ja Jesus gestorben, dass wir vor Gott gerecht dastehen. Wir sind keine Sünderinnen und Sünder mehr. Wir sind Gerechte, wir gehören zu den 99.
Das aber bedeutet: Wir sind mit dem Gleichnis nicht gemeint.
Sicher, wir haben uns früher auch mal wir das verlorene Schaf herumgetrieben, vielleicht gingen wir tatsächlich einmal verloren, vielleicht waren wir sogar verloren und wurden vom guten Hirten gefunden. Aber jetzt sind wir es nicht. Wir gehören zu den 99 Gerechten, über die sich die Engel im Himmel zwar freuen - aber über einen Sünder, der Buße tut, freuen sie sich noch ein bisschen mehr.
Trotzdem wendet sich das Gleichnis auch an uns. Ich habe sogar den Verdacht, dass es gerade für uns Gerechte erzählt wird. Jesus erzählt es ja auch den Schriftgelehrten und Pharisäern, die sich um Gottes Gerechtigkeit bemühen.
Drei Dinge sagt dieses Gleichnis über uns Gerechte aus, die uns ebenso trösten sollen wie die Zusage an das Verlorene, dass es gefunden wird.
Das erste überhört man leicht, weil es nur so nebenbei erzählt wird, aber es ist doch von Bedeutung: Die 99 Schafe werden in der Wüste zurückgelassen. Der Hirte bringt sie nicht erst nach Hause in den warmen, sicheren Stall, wo sie Wasser und Futter finden. Er lässt sie in der unwirtlichen, lebensfeindlichen und gefährlichen Wüste zurück.
Das entspricht unserer Lebenserfahrung: Manchmal haben wir das Gefühl, ohne Hirten zu sein und die Wüstenabschnitte unseres Lebens allein durchqueren zu müssen.
Aber der Hirte ist weder herzlos noch leichtsinnig. Er lässt seine Schafe nicht einfach im Stich, sondern weiß genau, was er tut: Er lässt sie als Herde zurück, als große Herde.
Wir fühlen uns zwar manchmal ohne Hirten, aber wir sind nicht allein. Wir haben einander, wir haben die Gemeinde. Die Gemeide ist die Herde der 99 Gerechten; sie gewährt uns den Schutz, den Halt und den Trost, den uns auch der Hirte gibt.
Jetzt verstehen wir auch besser, warum das Schaf ein verlorenes Schaf ist. Nicht, weil es sich verlaufen, sondern weil es sich von der Herde getrennt hat. Die verlorenen Schafe, zu denen Jesus unterwegs ist, sind die, die ohne den Schutz, den Halt und Trost der Gemeinde sind.
Als zweites fällt eine krumme Zahl auf: 99 Schafe, 9 Münzen. Man merkt sofort: Da fehlt eine, da fehlt eins, dass es 10 oder 100 sind. Das Verlorene fehlt, damit aus den Schafen und Münzen eine „runde” Zahl wird. Entsprechend groß ist die Freude darüber, wenn es gefunden wird. Das Verlorene gehört dazu. Die Gemeinde ist erst komplett, wenn auch die „verlorenen Schafe” dazugehören. Gewöhnlich denkt man bei den „Verlorenen” an Menschen, die nicht so richtig dazuzugehören scheinen. Die „anders” sind. Über die andere die Nase rümpfen: Die Sonderlinge und schrägen Vögel, die Anstrengenden und Eigenartigen, die Hilfsbedürftigen und die mit Helfersyndrom. Aber sie sind gar nicht die Verlorenen - sie sind ja auch da, wie alle anderen. Verloren sind die, die der Gemeinde abhanden kamen. Die sich abwendeten - aus Enttäuschung, im Streit, oder aus Gleichgültigkeit. Verloren zu gehen, das kann jeder und jedem von uns passieren. Doch der gute Hirte überlässt die Verlorenen nicht sich selbst. Er bemüht sich um sie. Er sucht sie. Denn ohne sie wäre unsere Gemeinde nicht vollständig. Die Gemeinde ist ja nicht unser Freundeskreis, unsere handverlesene Gruppe von Menschen, die sich mögen. Es ist die Gemeinschaft derer, die Christus selbst sich ausgesucht und angesprochen hat. Sein Geschmack, seine Auswahl ist nicht unsere, aber wir haben hier nichts zu wählen. Darum müssen wir uns nicht gegenseitig gut finden, wir brauchen nicht miteinander befreundet zu sein, wir müssen einander nicht einmal mögen. Trotzdem gehören wir als Gemeinde zusammen. Darum sollen wir uns umeinander bemühen, damit keine und keiner verloren geht.
Und das Dritte, das uns das Gleichnis sagen will?
Das Dritte ist überhaupt das Schönste und Wichtigste. Wenn Jesus uns zu den 99 Gerechten zählt, bedeutet das: Wir sind gut genug. Du bist gut genug. Wir müssen nicht immer noch mehr tun, immer noch besser werden, um uns Gottes Liebe zu verdienen. Er hat sie uns doch schon längst geschenkt, als er uns durch den Glauben gerecht machte. Als durch den Glauben Gerechte sind wir so, wie Gott uns haben will: Wir sind gut genug.
Gebe Gott, dass wir das auch annehmen und glauben können!