Sonntag, 30. Juni 2024

Paradoxa

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:


Christus sagte mir:

Dir soll meine Gnade genügen,

denn die Kraft vollendet sich in Schwachheit.

Darum gefallen mir Schwachheit, Misshandlung, Zwang,

Verfolgung, oder dass ich in der Klemme stecke,

wenn es für Christus ist.

Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.


Liebe Schwestern und Brüder,


Glauben ist nicht Wissen, sagt man. Das stimmt natürlich.

Wenn ich glaube, dass Spanien heute Abend gegen Georgien gewinnt,

hat das einige Wahrscheinlichkeit für sich.

Aber wissen kann man es erst, wenn das Spiel abgepfiffen wurde.

Mein Glauben ist ein Vermuten,

eine mehr oder weniger gut begründete Annahme.

Ob ich glaubwürdig bin, hängt unter anderem davon ab,

wie oft ich mit meinen Vermutungen richtig liege.

Wer mich kennt, weiß, dass ich keine Ahnung von Fußball habe

und wird deshalb meinem Glauben nicht trauen,

jedenfalls, was das Spiel heute Abend betrifft.


Auch der Glaube an Gott ist kein Wissen.

Der Glaube an Gott hat aber auch nichts zu tun

mit dem alltäglichen Glauben, das ein Vermuten ist.

Diese Unterscheidungen zwischen Glaube und Wissen,

zischen Glaube und Vermutung werden oft verwischt.

Wenn es im Glaubensbekenntnis heißt:

„Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde”,

dann steht dieser Glaubenssatz nicht im Widerspruch

zu unserem heutigen Wissen.

Wer Gott als Schöpfer bekennt,

ist nicht automatisch davon überzeugt,

dass die Welt in sechs Tagen entstand,

oder dass sie erst 5784 Jahre alt ist,

wie es der jüdische Kalender errechnet.


Glaube ist auch kein Vermuten,

mit dem man manchmal richtig liegt und manchmal nicht.

„Ich glaube an Gott” bedeutet nicht,

dass ich vermute, dass es Gott gibt.

Ich weiß, dass es Gott gibt.

Wäre Glauben dasselbe wie Vermuten,

würde man auf eine Bestätigung warten, dass es Gott tatsächlich gibt.

Diese Bestätigung erhält man nicht.

Man kann Gott nicht sehen, messen oder beweisen.

Das ist das stärkste Argument derer,

die den Glauben an Gott für Unsinn halten.

Dabei haben sie gar nicht begriffen, was Glauben tatsächlich ist.


Glauben an Gott ist etwas anderes als Vermuten oder Wissen.

Es ist eine besondere Fähigkeit, die alle Menschen besitzen,

so wie jeder Mensch zu Mitgefühl oder Liebe fähig ist.

Sie ist nur bei jeder und jedem unterschiedlich ausgeprägt,

und manche haben sie noch nicht für sich entdeckt.


Will man von dieser Fähigkeit sprechen,

und will man dabei vermeiden,

sie mit Wissen oder Vermuten zu verwechseln,

kann man einen Trick anwenden: Das Parádoxon.

Ein Parádoxon ist eine Aussage, die keinen Sinn ergibt,

wenn man sie auf herkömmliche Weise zu verstehen versucht.

Paulus ist geradezu ein Meister der Parádoxa.

Ständig benutzt er solche widersinnigen Aussagen,

um den Leserinnen und Lesern seiner Briefe deutlich zu machen,

was der Glaube an Christus bedeutet, und was nicht.


Auch der Gemeinde in Korinth schreibt er allein im heutigen Abschnitt

drei paradoxe, widersinnige Sätze.

Der erste lautet: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”,

der zweite: „Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung”

und der dritte: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”


I

Der Widerspruch des ersten Satzes,

„die Kraft vollendet sich in Schwachheit” sticht sofort ins Auge.

Kraft und Schwachheit bilden einen Gegensatz,

eins schließt das andere aus.

Entweder ist man stark, oder man ist schwach; beides geht nicht -

jedenfalls nicht in derselben Disziplin.


Im Sport geht es darum, die Kraft zu steigern, immer besser zu werden:

schneller, höher, weiter ist das Motto.

Bis zu einem gewissen Punkt macht das Spaß.

Aber irgendwann wird es eine Quälerei.

Ist schneller, höher, weiter zum Selbstzweck geworden,

geht die Freude am Sport verloren.

Man kann sich nur noch freuen, wenn man gewinnt,

freut sich nicht mehr am Spiel, an der Bewegung an sich.


Damit Sport Freude macht, muss man Schwäche zulassen.

Schwäche in dem Sinne, dass man darauf verzichtet

den Sieg um jedem Preis und mit allen Mitteln zu erringen.

So können die Freude an der Bewegung, am Können, am Miteinander

im Mittelpunkt stehen, und der Sieg ist nicht mehr die Hauptsache.


So verstehe ich Paulus’ Satz: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”.

Auf den Glauben angewandt bedeutet er:

Glaube ist kein Leistungssport.

Im Mittelalter versuchten manche Gläubige, besonders Mönche und Nonnen,

auf groteske Weise, Höchstleistungen im Glauben zu vollbringen.

Sie fasteten, beteten oder wachten bis zum Umfallen.

Von Franz von Assisi wird erzählt, er habe mit einem Leprakranken

aus einer Schüssel gegessen, um sich selbst dafür zu bestrafen,

dass er sich vor dessen blutigen Händen geekelt hatte.

Andere taten sich körperliche Qualen an,

legten sich Steinchen in die Schuhe, schlugen sich mit Geißeln

und hielten das für einen Ausdruck besonderer Frömmigkeit.


Etwas von dieser Haltung steckt auch ins uns,

wenn wir ein schlechtes Gewissen bekommen,

dass wir nicht oft genug in die Kirche gegangen sind,

nicht oft genug gebetet oder in der Bibel gelesen haben,

nicht genug gespendet oder uns engagiert haben.


Glaube soll kein schlechtes Gewissen machen,

Glaube soll befreien und Freude machen.

Damit er das tun kann, muss man sich eingestehen,

dass man manchmal keine Lust auf Kirche hat,

und dass das in Ordnung ist.


II

Der zweite, widersprüchliche Satz von Paulus lautet:

„Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung.”

Bei diesem Satz ist die Paradoxie noch offensichtlicher als beim ersten:

Wie kann einem Misshandlung, Zwang, Verfolgung gefallen?

Wer daran Freude hat, der ist doch nicht normal!?


Natürlich hat auch Paulus keine Freude daran,

wenn ihm weh getan wird oder er Angst ausstehen muss.

Warum sagt er es dann so,

dass man ihn missverstehen muss?


Wenn ich als Kind krank war, war es für mich das schönste,

dass ich im Bett liegen bleiben durfte

und meine Mutter mir neben der bitteren Medizin

leckeres Essen ans Bett brachte oder mir eine Geschichte vorlas.


Als Kind fällt es einem noch leicht, sich verwöhnen zu lassen.

Manche Erwachsenen behalten diese Fähigkeit ihr Leben lang -

man wirft ihnen wahlweise Faulheit vor, oder beneidet sie darum.

Vielen aber fällt es schwer, sich helfen zu lassen oder gar um Hilfe zu bitten,

weil sie das als Schwäche empfinden.


Wenn aber Glaube bedeutet, mit Gott in Kontakt zu kommen,

Gott zu begegnen, dann geht das nur dadurch,

dass man sich von Gott helfen lässt,

indem man sich eingesteht, dass man schwach ist und Hilfe braucht.

Darum gefällt Paulus Schwachheit: dadurch erfährt er Gottes Hilfe,

dadurch kommt ihm Christus nahe.

Diese Erfahrung kann er nicht machen, wenn er sich selbst hilft,

oder wenn er niemals Angst, Leid, Not erfährt.


Das bedeutet nicht, dass man Schlimmes erleben muss,

um die Erfahrung der Nähe Gottes zu machen -

wie auch ich nicht erst krank werden musste,

damit meine Mutter mir eine Geschichte vorlas

oder mir etwas Leckeres zu essen machte.


Es bedeutet, dass wir gerade in Situationen,

in denen wir uns schwach und hilflos fühlen,

die Erfahrung machen können, dass Gott uns nahe ist.

Glaube ist nicht nur etwas für schöne, unbeschwerte Tage,

sondern auch und gerade für die trüben Tage, die uns nicht gefallen.


III

Das dritte Parádoxon lautet: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”

Inzwischen ist klar, dass es sich dabei nicht um körperliche Stärke handelt.

Man kann, wie gesagt, nicht zugleich körperlich stark und schwach sein.

Aber es gibt ja noch andere Arten von Stärke:


Man spricht von starken Nerven,

wenn jemand auch in unübersichtlichen, anstrengenden oder

herausfordernden Situationen ruhig bleiben kann.


Man spricht von Charakterstärke,

wenn jemand seine Haltung bewahrt

und seine Meinung nicht der jeweils vorherrschenden anpasst,

auch wenn er oder sie dadurch Nachteile erfährt.


So bewundert man auch die Glaubensstärke bei jemandem,

die bei Leid oder Krankheit nicht mit Gott hadert,

sondern im Glauben Trost und Halt findet.


Solch innere Stärke ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann,

wie man seine Muskeln trainiert.

Man kann sogar den Glauben trainieren,

indem man immer wieder das Gespräch, die Begegnung mit Gott sucht

und, wie es im ersten Psalm heißt, über Gottes Wort nachdenkt,

wann immer sich dazu eine Gelegenheit ergibt.


Solches Glaubenstraining schützt nicht vor Enttäuschung,

es schützt nicht vor Zweifel oder dem Gefühl,

von Gott vergessen oder im Stich gelassen worden zu sein.

Im Gegenteil: Damit der Glaube Halt geben und trösten kann,

muss man auch diese Erfahrungen gemacht haben.

Man lernt zu ertragen, dass der eigene Glauben schwach ist

oder vielleicht sogar abhanden gekommen scheint.


Das Glaubenstraining hilft dabei,

das Gespräch mit Gott wieder aufzunehmen.

Dabei kann man die Erfahrung machen:

Gott hat niemals den Hörer aufgelegt,

Gott hat die ganze Zeit am anderen Ende des Hörers gewartet,

dass wir wieder ans Telefon gehen.


Auch hier gibt es ein Parádoxon:

Wenn wir die Verbindung niemals abbrechen,

wenn wir nie vom Telefon weggehen,

können wir nicht die Erfahrung machen,

dass Gott die ganze Zeit in der Leitung war.

Unsere Schwäche gereicht uns nicht zum Nachteil,

sondern ermöglicht uns erst die Erfahrung des Glaubens:

Die Schwäche macht uns stark.


IV

Was will Paulus den Korinthern, was will er uns über den Glauben sagen?

Ich denke, zuallererst will er Mut machen zu scheitern.

Wenn man die Angst vor dem Scheitern,

die Angst vor dem Verlust des Glaubens verliert,

wird Glaube wieder das, was er sein soll:

eine wohltuende Erfahrung, die glücklich, frei und selbstbewusst macht.


Paulus will auch Mut machen, sich den Glauben schenken zu lassen.

Nicht dem Glauben hinterherjagen,

sondern warten, dass der Glaube zu einem kommt.

Manchmal braucht man eine Pause vom Gottesdienst, von der Kirche.

Manchmal sagt einem das alles nichts mehr,

fehlt die innere Beteiligung.

Das ist menschlich. Nur keine Panik.

Der Glaube kommt zurück, wenn man am wenigsten damit rechnet.


Glaube ist eine Kraft, die jede und jeder besitzt

und die man sich doch nicht selbst erschließen kann.

Sie fällt einem zu, wenn man sich dafür öffnet, das heißt: wenn man schwach ist,

nicht auf die eigene Kraft, die eigene Leistung allein vertraut.

Die Kraft des Glaubens fällt einem zu,

weil Gott uns seine Gnade schenkt.

Gottes Gnade schenkt uns den Glauben -

diese besondere, einzigartige Kraft,

die uns in Gottes Nähe führt

und durch die Gott uns nahe kommt.


Darum bekennen wir Gott als Schöpfer.

Gott weckt in uns die schöpferische Kraft des Glaubens,

die uns stark macht, wenn wir schwach sind

und durch die unsere Schwäche zur Stärke wird.

Montag, 24. Juni 2024

ich muss abnehmen

Ansprache am Johannistag, 24.6.2024, über Johannes 3,22-30


Liebe Schwestern und Brüder,


ich muss abnehmen - das schießt einem manchmal durch den Kopf,

wenn man an sich hinunter auf die Anzeige der Waage blickt.

„Ich muss abnehmen”, denkt man. 

Aber dann locken der leckere Nachtisch,

dies eine, kleine Stückchen Schokolade zwischendurch, 

die paar Chips vor dem Fernseher.

Und beim nächsten Mal auf der Waage

ist der blöde Zeiger schon wieder ein Stück nach rechts gerückt.


„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.”

Johannes muss auch abnehmen,

obwohl er bei seiner kargen Diät von Heuschrecken und Honig

nichts ansetzen konnte.

Was bei Johannes schwindet, ist denn auch nicht der Bauch,

der ohnehin nicht vorhanden war, sondern der Einfluss.

Johannes hatte mit seiner Botschaft von der Umkehr

viele Menschen erreicht,

hatte Jünger um sich geschart

und war so etwas wie eine Berühmtheit geworden.

Selbst König Herodes kannte und fürchtete ihn,

weil Johannes öffentlich dessen liederliches Leben angeprangert hatte:

Herodes lebte mit der Frau seines Bruders zusammen.

Aber seit er Jesus getauft hatte,

war der in den Mittelpunkt des Interesses gerückt,

während Johannes’ Einfluss geschwunden war.


Johannes ist nicht traurig darüber,

er ist nicht neidisch auf Jesus’ Erfolg.

Er war der Vorläufer, der Wegbereiter.

Seine Arbeit ist getan, mission accomplished.

Jetzt übernimmt der Sohn Gottes.


Es ist alles andere als selbstverständlich,

dass jemand, der selbst etwas darstellt,

der wichtig und bedeutend ist,

sich mit der Position am Rand zufrieden gibt

und sich über den Erfolg des anderen von Herzen freut.


Auch in unserer Gemeinde sind meist nur wenige zu sehen,

während viele am Rand oder im Hintergrund dafür arbeiten,

dass alles läuft und gut gelingt.

Viele, die im Leben etwas geleistet haben oder noch leisten,

die Verantwortung trugen, wichtige Leute waren oder sind,

die man kennt und auf der Straße grüßt,

übernehmen in der Gemeinde ganz selbstverständlich Aufgaben,

für die sie selten gewürdigt werden und ein Dankeschön erhalten.

Aufgaben, die man oft nicht sieht, nur deren Ergebnisse,

und bei denen Sie meist nicht sichtbar sind.

Doch ohne Sie, ohne die vielen Johannas und Johannesse,

gäbe es die Domgemeinde nicht, würde hier nichts stattfinden,

wäre der Dom nicht ein so einladend offenes Haus, wie er es ist.


Sie tun das nicht für uns, die vorne stehen und zu sehen sind.

Denn wir sind ja nicht Jesus.

Auch wir, die Lektorinnen und Lektoren, 

Kantor, Gemeindepädagoge und Pastor,

auch wir sind Johannas und Johannesse, die auf Jesus weisen,

von ihm erzählen mit Worten und Musik, um ihn groß zu machen.

Gemeinsam mit Ihnen arbeiten wir daran, dass die Gemeinde wachsen 

und die Freude am Glauben zunehmen kann.

Die einen sozusagen vor der Kamera, und die anderen dahinter.


Bei aller Bescheidenheit, bei allem auf-Jesus-Weisen

darf man auch selbst im Rampenlicht stehen

und das Lob, den Beifall genießen, 

wenn man seine Sache gut gemacht hat.

So haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden

bei ihrer Vorstellung und ihrer Konfirmation

zu recht viel Aufmerksamkeit und Lob bekommen,

weil sie ihre Sache sehr, sehr gut gemacht haben.

Das hat der Sache Jesu keinen Abbruch getan.

Im Gegenteil: Gerade sie haben mit ihrem Auftreten -

im biblischen Sprachgebrauch würde man sagen: mit ihrem Zeugnis - 

noch einmal ganz andere Menschen erreicht

und Menschen noch einmal ganz anders erreicht,

als z.B. ich das mit meiner Predigt kann.


Darum ist es mir so wichtig,

dass Sie alle zu sehen sind, wenigstens ab und zu.

Ich weiß, dass das vielen von Ihnen unangenehm ist.

Man möchte nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen,

man möchte vielleicht auch nicht als unbescheiden gelten.

Trotzdem ist es so wichtig, dass Sie zu sehen sind:

Jede und jeder von Ihnen weist auf seine und ihre Weise auf Jesus.

Auf eine Weise, die einzigartig ist

und die Menschen anspricht, die anders 

und von anderen nicht angesprochen werden.

Ganz abgesehen davon darf man sich auch mal loben lassen

und stolz sein auf das, was man geleistet hat.


Ich habe keine Sorge, dass Sie dabei übermütig

oder gar eingebildet werden könnten.

Denn in diesem Satz des Johannes:

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen”

steckt noch etwas anderes.

Darin steckt, dass durch den Glauben

Christus immer mehr in uns Raum gewinnt.

Christus wächst in uns,

während wir selbst kleiner werden.

Nicht in dem Sinn, dass wir unwichtig sind,

oder dass wir uns nicht zeigen,

uns über eine gute Leistung freuen dürfen.


Siegmund Freud hat den Satz geprägt:

„Wo Es war, soll Ich werden”.

Er meint damit, dass durch die analytische Arbeit

Unbewusstes bewusst gemacht werden soll.

Man ist dann nicht mehr seinen Stimmungen, 

seinen Gefühlen - dem Es - ausgeliefert.

Man kann entscheiden, ob man Zorn oder Trauer

ausleben will oder, weil man weiß, woher sie kommen,

sie wahrnimmt und beiseite legt.

Aus dem unbewussten Es wird das bewusste Ich.


Paulus schrieb, lange vor Freud:

„Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir”.

Er meint damit etwas ähnliches wie Freud.

Wenn Christus in uns wächst,

werden unsere Entscheidungen immer mehr von Gottes Liebe bestimmt, 

die Christus lebte und verkörperte.

Wenn Christus in uns wächst,

werden Nächsten -, Gottes- und Selbstliebe eine Einheit.

Sie machen sich nicht Konkurrenz, sie ergänzen einander

und gehen ineinander über.

Auf diese Weise wird unser Ich kleiner,

ohne zu verschwinden, und Christus wird groß in uns.


Und weil Christus in uns wächst und groß wird,

darum sind wir alle seine Botschafterinnen und Botschafter.

Wir alle erzählen von ihm auf unsere besondere, einzigartige Weise,

mit Musik, mit Worten, mit Blumen,

durch den Kaffee, den wir für andere kochen,

die Würstchen, die wir grillen.

Indem wir den Dom öffnen und ihn Leuten erklären,

die wissen wollen, was das für ein Gebäude ist.

Sie alle, wir alle tun eine unschätzbare, unbezahlbare

und so wichtige Arbeit als Johannas und Johannesse.


Heute, am Johannistag, soll Ihnen das einmal bewusst werden.

Wenigsten heute sollen Sie stolz auf sich sein,

auf das, was Sie leisten und der Domgemeinde von sich geben.

Und ich will Ihnen heute dafür Danke sagen:

Danke im Namen des Kirchengemeinderates.

Danke im Namen der unzähligen Menschen,

die den Dom besuchen, die Konzerte und Gottesdienste.

Wie schön, dass es Sie gibt,

dass Sie Ihr Herz an die Domgemeinde verloren haben

und dass Sie auf Ihre ganz besondere Art

Botschafterinnen und Botschafter der Liebe Gottes sind!

Sonntag, 23. Juni 2024

alles auf eine Karte gesetzt

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 23.6.2024, über 1.Samuel 24,1-20:

David hielt sich in den Bergfestungen von En-Gedi vor König Saul versteckt.
Da wurde Saul gemeldet: David ist in der Wüste En-Gedi.
Daraufhin verpflichtete Saul 3.000 junge Männer aus ganz Israel
und zog aus, David und seine Männer ausfindig zu machen.
Als Saul an einen steinernen Pferch am Weg kam, war da eine Höhle.
In die ging Saul hinein, um sich zu erleichtern.
David und seine Männer aber hielten sich im hinteren Teil der Höhle auf.
Die Männer sagten zu David: Heute ist der Tag, von dem Gott sagte:
Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint.
David erhob sich und schnitt vorsichtig einen Zipfel von Sauls Hemd ab.
Danach klopfte sein Herz, weil er einen Zipfel von Sauls Hemd abgeschnitten hatte.
Dann sagte er zu seinen Männern: Gott behüte, dass ich so etwas tue
und erhebe meine Hand gegen meinen Herrn, den Gesalbten Gottes.
Denn er ist doch der Gesalbte Gottes!
Und er befahl seinen Männern, wegzutreten
und ließ nicht zu, dass sie sich gegen Saul erhoben.

Saul verließ die Höhle und ging seines Weges.
Kurz darauf stand David auf, trat aus der Höhle und rief Saul hinterher:
Mein Herr König!
Als Saul sich umdrehte,
neigte David sein Gesicht zur Erde und warf sich vor ihm nieder.
Dann sprach er zu Saul:
Warum hörst du auf die Leute, die behaupten: David plant Unheil gegen dich!
Siehe da, heute siehst du mit eigenen Augen,
dass Gott dich in dieser Höhle mir ausgeliefert hat.
Man riet mir, dich totzuschlagen; das hättest du verdient.
Aber ich sagte: Ich werde meine Hand nicht gegen meinen Herrn erheben,
denn er ist der Gesalbte Gottes.
Sieh her, mein Vater! Sieh doch den Zipfel deines Hemdes in meiner Hand!
Sieh, ich schnitt diesen Zipfel von deinem Hemd ab, ohne dich zu töten.
Sehe und erkenne, dass ich weder Böses im Sinn habe,
noch mich gegen dich auflehne, noch habe ich mich an dir vergangen.
Du aber stellst meiner Seele nach, sie mir zu nehmen.
Gott möge richten zwischen mir und dir,
Gott möge mich an dir rächen, aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wie das alte Sprichwort sagt:
„Verbrechen geschehen durch Verbrecher”,
aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wem jagt der König Israels nach? Wen verfolgst du?
Einen toten Hund, einen einzigen Floh.
Aber Gott soll Richter sein, und richten zwischen mir und dir.
Er wird die Beweise sichern und meinen Prozess führen
und mir aus deiner Hand zum Recht verhelfen.

Nachdem David diese Worte zu Saul gesprochen hatte, sagte Saul:
Ist das die Stimme meines Sohnes David? Und Saul begann laut zu weinen.
Er sprach zu David: Du bist gerechter als ich.
Denn du hast mir Gutes erwieseń, ich aber habe es dir mit Bösem vergolten.
Du hast mir gerade berichtet, was du mir Gutes tatest,  als Gott mich dir auslieferte.
Du hast mich nicht umgebracht.
Wer trifft auf seinen Feind und sorgt, dass es ihm gut geht?
Vergelt’s Gott für das Gute, das du heute für mich getan hast!


Liebe Schwestern und Brüder,

diese Geschichte von David und Saul ist so spannend wie einer der Italo-Western von Sergio Leone, die regelmäßig im Fernsehen wiederholt werden: „Spiel mir das Lied vom Tod”, „Zwei glorreiche Halunken” oder „Für eine Handvoll Dollar”. Auch hier geht es um Leben und Tod, auch hier steht für einen Augenblick auf Messers Schneide, ob die Sache für den Guten böse oder gut ausgeht.

Die Landschaft dieser Italo-Western, die überwiegend in Spanien gedreht wurden, liefert die Kulisse für unsere Geschichte: So können wir uns die Wüste En-Gedi und die Berge vorstellen, in denen sie spielt. Und wie in Sergio Leones Western gibt es auch hier, trotz aller Spannung und trotz allen Ernstes, eine Spur von Humor: Es ist eine anrüchige Geschichte, im wahrsten Sinne des Wortes.

König Saul war in eine äußerst missliche Lage geraten. Als er dringend mal musste, betrat er ausgerechnet die Höhle, in der sich David mit seinen Kumpanen versteckt hielt. Er ging allein hinein, natürlich, und war dadurch völlig ungeschützt. Man kann sich kaum eine unglücklichere Situation vorstellen als die, in der Saul sich befand. Zum Glück wusste er es da noch nicht.

Aber auch David saß in der Klemme. Nie schwebte er in größerer Gefahr, entdeckt zu werden, als in diesem Moment in der Höhle. Ein Mucks, und es wäre mit ihm vorbei gewesen. Saul hätte sofort um Hilfe gerufen. Draußen warteten 3.000 Bewaffnete, die seit Monaten nach ihm gejagt hatten; er wäre niemals entkommen.

David war früher einmal von Saul als Musiktherapeut engagiert worden. Durch sein Harfenspiel und seinen Gesang sollte er die Schwermut vertreiben, die ihn oft befiel. Saul wusste nicht, dass er sich mit David seinen Rivalen ins Haus geholt hatte. Der Prophet Samuel, der Saul zum König gesalbt hatte, wodurch er der Messias wurde, der Gesalbte Gottes, hatte inzwischen David zu seinem Nachfolger gemacht. Auch David war ein Gesalbter Gottes; er war es nur noch nicht offiziell.

Im Laufe der Zeit wurde Saul misstrauisch. Er spürte, dass David sein Rivale war. Irgendwann wurde es ihm zur Gewissheit. Er entschloss sich, David aus dem Weg zu räumen. David musste den Palast fluchtartig verlassen. Sein Freund, Sauls Sohn Jonathan, hatte ihm vor den Plänen seines Vaters gewarnt und ihm bei seiner Flucht geholfen. David wurde Anführer einer Gruppe von Banditen. Er beraubte und tötete die Philister, die mit den Israeliten im selben Land wohnten. Dadurch machte er sich einen Namen und baute seine Beliebtheit im Volk aus. Zugleich war er selbst ein Gejagter, immer auf der Flucht, damit Saul und seine Soldaten ihn nicht erwischten.

Saul verfolgte David erbarmungslos. Wo David mit seiner Bande zuschlug, schickte er Soldaten hin, aber sie kamen immer zu spät. Er hatte auch Späher beauftragt, nach ihm zu fahnden. Die neueste Nachricht war vielversprechend: David hatte sich in die Wüste En-Gedi zurückgezogen. Jetzt hatte er ihn. Dort saß er in der Falle.

David sah Saul von den Bergen aus  mit seinem riesigen Heer heranrücken. Ein Kampf war aussichtslos. Hundert Soldaten Sauls gegen einen von seinen Männern. David konnte nur hoffen, dass Saul ihn nicht entdeckte. So versteckte er sich mit seiner Bande in einer Höhle.

Nun, in dieser Höhle in der Wüste En-Gedi, war König Saul David ausgeliefert, ohne es zu ahnen. Für David war es die Gelegenheit, seinen Verfolger auszuschalten und den Thron an sich zu reißen. Die 3.000 Mann draußen hätten ihn als neuen König akzeptiert, wenn er mit dem Kopf Sauls in der Hand vor die Höhle getreten wäre.

Aber David hatte offenbar Skrupel, Saul zu töten. Die Anrede, die sie füreinander haben, „mein Vater” - „mein Sohn” beweist, dass sie sich einmal sehr nahe gestanden hatten. Von dieser Nähe war noch etwas da. David brachte es nicht über sich, Saul hinterrücks zu ermorden.

So war auch David in gewisser Weise seinen Männern ausgeliefert. Sie akzeptierten ihn nur so lange als Anführer, wie er sich als stark und überlegen erwies. Sobald er Schwäche zeigte, würde ein anderer seinen Platz einnehmen. 
Sie spüren, dass David zögert und zwingen ihm zum Handeln: „Heute ist der Tag, von dem Gott sagte: Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint”.

Man kann sich ihre finsteren Mienen, ihre kalten, erbarmungslosen Augen vorstellen, wie sie David mustern. Es kann keinen Zweifel geben, was sie von ihm erwarten. David bleibt nichts anderes übrig, als sein Messer zu zücken und sich von hinten an Saul heranzuschleihen.

Doch er sticht nicht zu. Mit scharfer Klinge, klopfendem Herzen und Schweißperlen auf seiner Stirn schneidet er einen Streifen von Sauls Hemd ab. Damit kehrt er zu seinen Männern zurück. David hat die Mutprobe bestanden. Er hat sich als Anführer bewährt, auch wenn seine Bande mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein kann.

David hat nun ein Faustpfand in der Hand, mit dem er einen sicheren Abzug für sich und seine Männer aushandeln will: Das Stück Stoff, das er von Sauls Hemd abschnitt. Nun kommt es zum eigentlichen Showdown: David tritt aus der Höhle und ruft seinen Feind beim Namen.

Im Western würden nun beide Gegner einander umkreisen, sich unablässig in die Augen starren, die Hand über dem Griff des Colts, bis einer von beiden es nicht mehr aushält, seinen Colt zieht - aber da hat der andere schon abgedrückt.

David macht das Gegenteil: Er blickt Saul nicht an, sondern wirft sich zu Boden, liefert sich ihm aus. Saul wird von dieser Begegnung kalt erwischt und ist erst einmal sprachlos - die Gelegenheit für David, seine Sache vorzubringen.

Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Hatte er sich eben noch demütig gezeigt, wirken seine Worte jetzt wie Ohrfeigen. Aber so sicher er sich ist, im Recht zu sein, David pokert hoch. Wenn Saul ihn wirklich tot sehen will, dann hat jetzt seine Stunde geschlagen.

Aber auch Saul kann David nicht töten. Auch ihn übermannt die Erinnerung an bessere Tage, ihm kommen sogar die Tränen. Und er gesteht David gegenüber ein, im Unrecht zu sein und ihm Unrecht getan zu haben.

Wie kommt es zu dieser Wendung der Geschichte? Wie konnte David dieses Risiko eingehen, sich mit seinem Stückchen Stoff in der Hand Saul bedingungslos auszuliefern, und warum ergreift Saul nicht die Gelegenheit, seinen Rivalen endlich ein für allemal auszuschalten?

Im Western wäre jetzt von Fairness die Rede. Wie David vor seinen Männern das Gesicht wahren musste, um weiter ihr Anführer bleiben zu können, so ist Saul vor seinen 3.000 Soldaten Fairness David gegenüber schuldig. David im Zweikampf zu töten, das wäre fair gewesen. Aber wenn er ihn jetzt, wo er wehrlos vor ihm steht, erschlägt, hat er seinen Anspruch, König zu sein, verspielt. So wäre es im Western.


In der Bibel heißt es nicht Fairness, sondern Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet nicht so sehr,  dass alle das gleiche bekommen. Gerechtigkeit bedeutet, einen Vorteil nicht auszunutzen, den man seinem Gegner gegenüber hat. Auf diese Gerechtigkeit verlässt sich David, als er sich Saul ausliefert, und er wird nicht enttäuscht. Weil David sich Saul gegenüber fair verhiellt, kann er darauf vertrauen, auch von ihm fair behandelt zu werden.


Dieses Vertrauen auf faires Verhalten wäre heute leichtsinnig. In unserem Alltag ist Fairness selten, sonst müsste sie nicht immer wieder eingefordert werden. Dass es Leute gibt, die sich unfair verhalten,  ist nun einmal leider der Lauf der Welt: Es gibt gute Menschen, die fair spielen, handeln oder kämpfen, und es gibt böse, die es nicht tun. Aber seit längerer Zeit hat eine beunruhigende Entwicklung dazu geführt, dass Fairness nicht mehr als erstrebenswert gilt. Wer fair ist, ist dumm, und wer nicht jede Chance ausnutzt, die sich ihm bietet, und seinen Erfolg mit allen Mitteln und ohne Skrupel sucht, ist ein Verlierer und hat es nicht besser verdient.

Wie kommt es, dass David sich darauf verlassen kann, dass Saul sich fair verhalten wird? Wie kommt es, dass Saul sich an die ungeschriebene Regel der Fairness hält?

Es ist die Ehrfurcht, der Respekt vor Gott, die Saul empfindet und die David bei ihm voraussetzen kann. Wer anerkennt, dass Gott über einem steht, wird sich fair verhalten. Nicht aus Angst, dass Gott straft, wenn man es nicht tut. Sondern weil das Gottes Wille ist: Gerechtigkeit.

In den Western Sergio Leones ist immer sofort klar, wer der Gute ist: Es ist der, der fair kämpft und sich für Gerechtigkeit einsetzt. Mit dem bösen, dem finsteren Fiesling, hat man keine Sympathie.

Es ist diese Sympathie für die Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach Fairness, die Gott in uns wecken will. Damit Menschen sich darauf verlassen können, dass wir ihre Notlage nicht ausnutzen, und damit auch wir ein faires Verhalten erwarten können. Nur so ist Zusammenleben möglich, ohne dass ein Mensch dem anderen zum Wolf wird, ohne dass das Leben ein einziger Kampf ums Überleben ist.

Übrigens steckt in „Fairness” das Wort „fair”, schön. Ein Leben, in dem es gerecht zugeht, in dem man sich auf faires Verhalten verlassen kann ist einfach viel schöner als eines, in dem jede und jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Sonntag, 16. Juni 2024

Sünde, Buße, Auferstehung

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 16.06.2024, über Lukas 15,1-3.11-32


Liebe Schwestern und Brüder,


ist die Geschichte vom verlorenen Sohn

eine glückliche oder eine traurige Geschichte?


Ein Vater nimmt seinen Sohn,

der ihm den Rücken gekehrt und ihn verlassen hatte,

mit großer Freude wieder auf.

Der Sohn war reumütig und zerknirscht zurückgekehrt,

hatte seinen Fehler eingestanden.

Statt ihn für sein Fehlverhalten zu bestrafen,

gibt der Vater für seinen Sohn ein Fest,

weil er ihn lebendig wieder hat.

Ein glückliches Ende.


Es ist also eine glückliche Geschichte,

die zeigt, dass Gott wie dieser Vater ist,

der sein Kind mit Freuden wieder aufnimmt,

obwohl es die Beziehung zu ihm abgebrochen hatte.

Die Rückkehr des Kindes wird Anlass zu einem Fest.

„So”, fasst Jesus zusammen, „wird Freude sein

vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.”


Sünde und Buße,

diese beiden Stichworte beschreiben,

was in der Geschichte vom verlorenen Sohn geschieht.


Worin besteht seine Sünde?

Sicher nicht darin, dass er seinen Anteil am Erbe sinnlos vertat,

und auch nicht darin, wofür er das Geld ausgab.

Das war Dummheit, aber keine Sünde.

Eine Dummheit, die sich bitter rächen sollte:

Als er es dringend braucht, hat der Sohn kein Geld mehr.

Er findet nur die allerniedrigste Arbeit, wird zum Schweinehirt,

und bekommt doch nicht genug zum Leben.


Er ist in eine ausweglose Lage geraten.

Zum Vater zurückzukehren ist die einzige Möglichkeit,

die er noch für sich sieht.

Das ist aber gar nicht so einfach.

Zwischen ihm und seinem Vater steht die Sünde, die er beging:

Dass er sein Erbteil von ihm gefordert hatte.


Diese Forderung an sich ist natürlich keine Sünde.

Das Erbteil war sein gutes Recht -

sonst hätte der Vater ihm das Geld nicht ausgezahlt.

Was aufgrund dieser Forderung geschah, das ist die Sünde:

Als der Sohn sein Anteil am Erbe forderte

und in ein fremdes Land auswanderte,

brach er die Beziehung zu seinem Vater und zu seiner Familie ab.

Es war ein endgültiger Abschied,

er hatte nicht vor, zurückzukehren.

Er würde seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder nie mehr wiedersehen.

Für ihn waren sie so gut wie gestorben.


„Der, die ist für mich gestorben”, sagt man,

wenn man mit jemandem nichts mehr zu tun haben will.

Und zwar endgültig nichts mehr zu tun haben will.

Man kann sich keine Beziehung zu dieser Person mehr vorstellen.

Es ist, als würde diese Person nicht mehr existieren -

und so hätte man es auch am liebsten.

Es ist, als wäre er, als wäre sie tatsächlich gestorben.


In dieser Weise ist sein Vater für den verlorenen Sohn gestorben.

Vielleicht hatte er das so nicht beabsichtigt.

Vielleicht hatten ihn Neugier und Abenteuerlust getrieben,

vielleicht wollte er dem bäuerlichen Leben entfliehen

und die große, weite Welt kennen lernen.

Er hatte sich dabei keine Gedanken gemacht,

wie seine Familie seinen Weggang empfinden würde.


Vielleicht war aber auch etwas vorgefallen,

das ihm ein Bleiben unmöglich machte.

Vielleicht hatte es einen Streit gegeben,

vielleicht wurde er verletzt.

Vielleicht sah er als jüngerer neben seinem großen Bruder

keine Zukunft für sich - wir wissen es nicht.


Ob absichtlich oder unbeabsichtigt -

sein Vater ist für den verlorenen Sohn gestorben.

Damit ist aber auch der Sohn für den Vater gestorben.

Nicht unbedingt in der patzigen Weise,

in der man auf diese Ansage reagiert: „Du bist für mich gestorben.” -

„Und du erst recht!”

Sondern beinahe im wörtlichen Sinn:

Der Sohn hat die Beziehung zum Vater abgebrochen

ohne die Möglichkeit einer Fortsetzung oder Veränderung.


Der endgültige Abbruch einer Beziehung: Das ist der Tod.

Der Vater erleidet den Tod seines Sohnes.

Sein Schmerz ist dem von Eltern vergleichbar,

die eins ihrer Kinder zu Grabe tragen müssen.

Nur, dass sein Sohn woanders und mit anderen weiterlebt,

während er für ihn gestorben ist.


Wenn man Sünde so versteht,

geht es nicht um ein falsches Verhalten,

eine moralische Verfehlung, ein Abweichen von einer Norm

oder eine grundsätzliche Bosheit und Verderbtheit.

Sünde ist der Abbruch einer Beziehung,

der Beziehung zu Gott.

Wer sündigt, für die, für den ist Gott gestorben.


Ist Gott für jemanden gestorben,

wurde die Beziehung zu Gott selten bewusst aufgekündigt.

Meist trennte man sich unbewusst von Gott,

ohne nachzudenken und ohne es böse zu meinen.

Wie der Sohn vielleicht mit dem Alten und Gewohnten brechen

und die große, weite Welt kennen lernen wollte,

so ist auch für uns vieles interessanter und plausibler als Gott.


Wie findet man zu einer Beziehung zu Gott zurück?

Wie beim verlorenen Sohn führt der Weg über die Buße.

Buße bedeutet nicht, dass man sich irgendwelche Strafen auferlegt,

sich Zwänge antut oder sich erniedrigt.

Buße bedeutet Umkehr:

Die Einsicht, dass man sich auf dem falschen Weg befindet.

Links oder rechts abzubiegen,

um wieder auf den richtigen Weg zu kommen,

sind keine Optionen mehr.

Man steckt in einer Sackgasse.

Aus der kommt man nur durch eine 180-Grad-Wende wieder heraus:

indem man umkehrt.


Zur Umkehr gibt es im Johannesevangelium

ein Gespräch zwischen Jesus und dem Pharisäer Nikodemus (Johannes 3).

Umkehr heißt bei Johannes „Neugeburt”.

Jesus spricht davon, dass man neu geboren werden muss,

um in das Reich Gottes zu gelangen.

Nikodemus versteht das bewusst falsch:

„Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?

Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?”


Umkehr bedeutet nicht, auf dem Hacken kehrt machen

und den Weg zurückgehen, den man gekommen ist.

Umkehr heißt, sich verändern,

ein anderer, ein neuer Mensch werden.

Wenn die Beziehung zu Gott zerbrochen ist,

kann sie nur neu werden, wenn man sich ändert.

Nicht äußerlich, indem man die Haare anders trägt

oder eine lieb gewordene Gewohnheit aufgibt.

Sondern innerlich, indem man eine neue Einstellung

zu sich, zur Welt und zu seinen Mitmenschen einnimmt.


So ist es auch in unseren Beziehungen.

Nach einer Trennung kommt man nur wieder zusammen,

wenn beide sich ändern.

Das ist nicht leicht,

weder in den zwischenmenschlichen Beziehungen,

noch in unserem Verhältnis zu Gott.

Es ist geradezu ein Wunder, wenn es geschieht.

Dieses Wunder hat einen Namen: Auferstehung.


Der Sohn, für den der Vater gestorben war

und der für den Vater gestorben war, kehrt um,

kehrt zurück zu seinem Vater.

Er kann sich nicht vorstellen,

dass sein Vater nach all dem noch etwas mit ihm zu tun haben will.

Aber weil er seinen Vater kennt, hofft er auf dessen Mitleid.

Auf die Chance, in seiner Nähe überleben zu können.


Der Vater aber nimmt ihn auf als der, der er ist: Sein Sohn.

Er setzt ihn sofort wieder in seine alten Rechte ein

und richtet ein Fest für ihn aus.

Damit riskiert er sogar, seinen älteren Sohn zu kränken

und vor den Kopf zu stoßen,

der ihm doch immer die Treue gehalten hat

und der nicht versteht,

wie der Vater seinem jüngeren Bruder so entgegen kommen kann.

Das ist die Auferstehung, erklärt der Vater seinem Ältesten.

„Dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden.”


Auferstehung geschieht nicht erst am Ende der Zeiten,

wenn Gott eine neue Erde unter einem neuen Himmel schafft

und wir verwandelt einem neuen Leben entgegengehen.


Auferstehung geschieht da,

wo Menschen erkennen, dass sie in eine Sackgasse geraten sind.

Da, wo man das Ende vermutet, in der Sackgasse,

da geschieht der neue Anfang, die Auferstehung.

Man steht auf und sieht, wo man sich befindet.

Und man möchte da nicht mehr sein,

man möchte heraus, möchte zurück zur Quelle des Lebens,

die einen neuen Anfang möglich macht.


Auferstehung ist ein Wunder.

Wir können dieses Wunder leider nicht selbst bewirken.

Aber wir können auf dieses Wunder hoffen.

Wir dürfen sogar damit rechnen,

dass wir aufgerichtet werden,

wenn wir am Ende unserer Weisheit,

unserer Möglichkeiten oder Fähigkeiten angekommen sind.

Wir werden aufgerichtet und erkennen,

dass wir uns verrannt haben.

Diese Erkenntnis: Das ist der erste Schritt zur Umkehr.

Das ist Auferstehung.