Sonntag, 15. September 2024

dem Tod keinen Raum geben

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 15.9.2024, über Psalm 16,5-11:


Ich habe einen Anteil an Gott;

er ist mein Hauptgewinn.

Du hältst mein Los im Spiel.

Mir wurde ein schönes Plätzchen zugemessen;

ja, mir ist ein Erbteil zugefallen.

Ich preise Gott, weil er mich beraten hat.

Ja, des Nachts findet mein Innerstes einen Rat.

Ständig denke ich an Gott.

Er ist an meiner Seite, 

        nichts kann mich verunsichern.

Darum freut sich mein Herz,

und ich kann sorglos sein.

Ich lebe wirklich in Sicherheit;

denn du wirst verhindern,

        dass meine Seele zu Nichts wird.

Du lässt nicht zu, dass, wer treu zu dir hält,

das Grab sehen muss.

Du zeigst mir den Weg des Lebens.

In deiner Gegenwart bin ich glücklich.

An deiner Seite ist es immer schön.



Liebe Schwestern und Brüder,


„Somewhere over the rainbow …”

singt die amerikanische Schauspielerin Judy Garland.

Irgendwo jenseits des Regenbogens gibt es ein Land,

in dem der Himmel immer blau ist

und die Träume, die man träumt, wahr werden.


Vielleicht ist dies das schöne Plätzchen, 

das der Psalmbeter im 16. Psalm zugeteilt bekam:


„Mir wurde ein schönes Plätzchen zugemessen;

ja, mir ist ein Erbteil zugefallen.”


Es muss ein Land jenseits des Regenbogens sein.

Denn wovon der Psalm spricht, 

klingt zu schön, um wahr zu sein:


 „Du wirst verhindern,

dass meine Seele zu Nichts wird.

Du lässt nicht zu, dass, wer treu zu dir hält,

das Grab sehen muss.”


Ja, wenn das wahr würde!

Wenn der Tod so endgültig besiegt wäre,

wie es die Osterlieder im Überschwang 

der Auferstehungsbotschaft besingen.

Wie sie den Tod auslachen und verächtlich machen!


Diesen Übermut hat man wohl nur zu Ostern.

In unserem Alltag müssen wir die Macht des Todes erdulden.

In den letzten Wochen haben wir an jedem Sonntag

hier im Dom an eine Verstorbene, einen Verstorbenen 

aus unserer Gemeinde gedacht.


Den Tod besiegen - ein uralter Menschheitstraum.

Wer das könnte! Oder ihn zumindest überlisten 

und damit ein paar Jahre mehr für sich herausschlagen, 

wie in es vom Brandner Kaspar erzählt wird

und im Märchen vom Gevatter Tod.


Ein Leben ohne Tod wäre aber nur erstrebenswert,

wenn man dabei zugleich auch nicht älter würde.

Denn was hätte man vom langen Leben, 

wenn man es nicht auskosten und genießen könnte,

weil man immer schlechter hört und sieht,

die Kraft nachlässt und die Beweglichkeit?


Mit dem Alter zugleich den Tod besiegen,

das mag der Traum einiger Wissenschaftler sein.

Ein unendliches - oder auch nur unvorstellbar langes -

Leben auf dieser Erde würde auf Dauer unerträglich.

Eher früher als später wäre es die Wiederholung des Ewiggleichen,

wie ein Tag, den man immer wieder durchleben muss

und aus dem es kein Entrinnen gibt.


Mit der Endlichkeit des eigenen Lebens kann man sich versöhnen.

Ja, manche, mancher ersehnt sich geradezu das Ende des Lebens,

wenn die Beschwerden des Alters überhand nehmen,

der Bewegungsradius sich immer mehr einschränkt

und die Freundinnen und Freunde alle gegangen sind.


Der Tod als das Ende des eigenen Lebens

ist erschreckend und beängstigend, solange man jung ist,

solange man das Leben genießen kann.

Aber schrecklich ist er eigentlich nicht.

Zu unserem Leben gehört, dass es endlich ist.

Gerade das macht unser Leben wertvoll,

macht jeden Tag einzigartig.


Schrecklich ist der Tod,

wenn er uns einen lieben Menschen nimmt.

Schrecklich ist der Tod,

wenn er um uns und in uns Raum greift.

Er greift in Menschen Raum, die an einer Depression erkranken.

Die unter dem Verlust eines lieben Menschen leiden.

Aber auch in Menschen, die vom Hass auf andere 

so sehr erfüllt sind, dass sie deren Leben auslöschen wollen.


Der Tod greift Raum dort, wo Krieg ausbricht,

wo Hunger und Dürre herrschen,

wo Menschen der Gewalt und Willkür ausgeliefert sind.

Da wird das Sterben beinahe alltäglich,

weil der Tod jederzeit jede und jeden treffen kann.


An solchen Orten, zu solchen Zeiten

sehnt man sich nach dem Land jenseits des Regenbogens,

klammert man sich an Worte 

wie die des walisischen Dichters Dylan Thomas:

„And death shall have no dominion” -

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.


Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben:

Das ist die Botschaft der Auferstehung.

Der Tod ist nur noch das Ende des Lebens,

nicht mehr eine Macht, die das Leben von Menschen

bestimmen und belasten, es unerträglich machen kann.


Und das ist auch die Botschaft des 16. Psalms.

Das schöne Plätzchen, das dem Psalmdichter zugefallen ist,

ist nicht das Land jenseits des Regenbogens.

Es befindet sich an der Seite Gottes,

weil Gott in seinem Leben Raum gegriffen hat.


Gott hat sich in seinem Leben so breit gemacht,

dass es für den Tod einfach keinen Platz mehr gibt.

Der Psalmbeter ist von Gott erfüllt.

Darum ist auch sein Leben erfüllt und schön.

Nicht, weil Gott alles Schwere, alles Leiden verhindert -

das gibt es weiterhin, wie es auch den Tod noch gibt.


Gott ist mächtiger als das Schwere, das Leid,

mächtiger auch als der Tod.

Gottes Macht scheint in allem Dunkel als Licht,

das niemals verlischt. 

Gottes Macht bleibt die Hoffnung, der Halt, der Trost, 

dass der Tod keine Macht hat,

dass ihm kein Reich mehr bleibt.


Das gilt natürlich nicht erst für das Leben nach dem Tode.

Das gilt jetzt, gilt für uns hier und heute

und kann unser Leben bestimmen wie das des Psalmbeters.


Wie man das erreichen kann?

Die Antwort liegt in dem Satz:


„Ständig denke ich an Gott.”


Wörtlich heißt es: Ständig habe ich Gott vor Augen.

Das erinnert an den 1.Psalm, 

wo der Mensch glücklich gepriesen wird, der 


„Freude hat am Gesetz des Herrn

und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht”


In Gottes Gegenwart gelangt man 

durch die Beschäftigung mit Gottes Wort.

Da hat man Gott vor Augen, da denkt man an ihn,

da kann er in einem Menschen Raum greifen:

Indem Gottes gutes Wort einen Menschen erfüllt,

bleibt dem Tod kein Raum mehr.


So erfüllen uns die Worte der Osterlieder,

der Dichterinnen und Dichter wie Dylan Thomas.

Gute Worte - Gottes gute Worte -

singen uns vom Leben und seiner Schönheit.

So führt uns Gott zurück auf den Weg des Lebens,

wenn wir im finsteren Tal wandern mussten,

im Tal der Todesschatten.


So macht Gott uns auch zu Protestleuten gegen den Tod,

die dem Tod die Stirn bieten, seine Macht bestreiten

und es wagen, ihn auszulachen,

obwohl er so schrecklich ist und solche Schrecken verbreitet.

Mit Gott an unserer Seite können wir uns das trauen.


Denn es geht nicht nur darum, 

dem Tod keinen Raum in unserem Leben zu geben,

sondern ihm überhaupt keinen Ort mehr zu lassen,

an dem er Menschen schrecken und belasten kann.


Überall auf der Welt muss der Tod verdrängt werden

durch die Schönheit und das Glück,

die man in Gottes Gegenwart erleben kann.

Und das heißt: in seinem Wort und durch sein Wort.


Wir werden es nicht schaffen,

dem Tod jeden Raum zu nehmen,

dass er keine Macht mehr hat.

Das bleibt allein Gott vorbehalten.


Aber mit der Auferstehung seines Sohnes ist ein Anfang gemacht.

Und mit jedem Menschen, jedem Ort,

in dem Gott Raum greifen kann,

schwindet der Machtbereich des Todes,

bis ihm tatsächlich kein Reich mehr bleibt.

Oder, wie Paulus im 1.Korintherbrief schreibt:


„Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod, 

auf dass Gott sei alles in allem.”


Amen.

Sonntag, 8. September 2024

mach dir keine Sorgen

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 8.9.2024, über Matthäus 6,25-34

Liebe Schwestern und Brüder,

„Frau Meier machte sich Sorgen.
Gerade noch sorgte sie sich um einen Knopf an ihrem Wintermantel,
der abzufallen drohte.
Später war es dann vielleicht einer ihrer Kuchen.
Ob sie etwa doch zu wenig Rosinen genommen hatte?
Oder noch etwas später, konnten es einige Haare
auf dem Kopf von Herrn Meier sein,
die so merkwürdig in die Höhe zeigten.
Manchmal sorgte sie sich auch um die Flugzeuge,
die hin und wieder über ihren Garten flogen,
ob nicht eins von ihnen abstürzen könnte
und ob dann womöglich das Radieschenbeet verwüstet wäre,
und ob sie schließlich genügend Platz im Hause hätten
für all die erschrockenen Passagiere.
Gelegentlich zählte Frau Meier deshalb
ihren Vorrat an Mullbinden und Heftpflaster.”

Mit Sorgen beginnt das Bilderbuch „Frau Meier, die Amsel” von Wolfgang Erlbruch.
Ein Bilderbuch ist für Kinder gedacht.
Aber ich habe meine Zweifel, ob Kinder sich solche Sorgen machen -
ob sie überhaupt verstehen, was „Sorgen” sind.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke,
dann war sie, soweit ich mich erinnern kann, frei von Sorgen.

Die ersten richtigen Sorgen habe ich mir gemacht, als ich selbst eine Tochter hatte:
Dieses kleine, zarte Wesen, das ich kurz nach der Geburt auf dem Arm halten durfte,
sah so zerbrechlich aus, dass ich schreckliche Angst bekam:
Angst um meine Tochter,
Angst, ich könnte ihr wehtun oder etwas an ihr kaputtmachen.
Angst, die Welt, das Leben könnten ihr wehtun.
Mit der Verantwortung für diesen wunderbaren Menschen kamen die Sorgen um mein Kind.

Kinderbücher, der Name sagt es, sind für Kinder da.
Geschrieben und illustriert werden sie aber von Erwachsenen.
Nach unzähligen Bilderbüchern,
die ich mit meiner Tochter angeschaut und ihr vorgelesen habe, kann ich sagen:
Sie sind ebenso für Erwachsene gemacht wie für Kinder.
In den Sorgen der Frau Meier, die Kinder zum Glück noch nicht kennen,
erkennen wir uns wieder, nicht die Kinder -
die hören und verstehen die Geschichte oft ganz anders,
und ihnen sind die Bilder mindestens genauso wichtig wie die Geschichte selbst.
Ich musste jedenfalls lachen, als ich von Frau Meiers Sorgen las,
weil ich mir oft auch solche Gedanken mache
und beim Lesen merkte, wie unnötig und überflüssig sie sind.

Meine Kindheit war sorgenfrei.
Aber es gibt wohl Kindheiten, die nicht so sorglos waren wie meine.
Ich denke an meine Eltern, die in den Kriegsjahren aufgewachsen sind.
Ich denke an die Kinder, die jetzt in den Kriegs- und Krisengebieten unserer Zeit,
in den Flüchtlings- und Auffanglagern aufwachsen.
Das erinnert mich an ein anderes Kinderbuch,
an „Pünktchen und Anton” von Erich Kästner.
Darin wird von Pünktchen erzählt, die eigentlich Luise heißt
und völlig sorgenfrei mit Kindermädchen und Köchin aufwächst,
weil ihre Eltern sehr wohlhabend sind,
während ihr Freund Anton in ständiger Sorge lebt,
weil seine Mutter ein „Gewächs” im Bauch hat und nicht arbeiten kann
und weil er neben der Schule Geld verdienen muss,
damit er etwas zu Essen kaufen kann -
so war das damals in den 1920er Jahren in Berlin.

Ob man Sorgen kennenlernt oder nicht,
hat bei Erich Kästner mit dem Wohlstand zu tun:
Wer im Wohlstand aufwächst und lebt,
braucht sich keine Sorgen zu machen und kennt daher keine Sorgen,
während Armut ein ständiges sich Sorgen bedeutet,
wie man den nächsten Tag bestehen und überstehen soll.
Je nach unseren Erfahrungen - ob wir im Wohlstand,
also relativ sorgenfrei aufwachsen durften,
oder ob wir Sorgen durch Krieg, Not, Krankheit oder Armut erfahren mussten,
hören wie die Worte Jesu aus dem Evangelium anders.

„Sorgt euch nicht” - die einen denken dabei an die überflüssigen Sorgen der Frau Meier,
die anderen an die existentiellen Sorgen des Schülers Anton,
der sich um seine Mutter, den Haushalt und das Essen kümmern muss.
Und je nach Blickwinkel ist die Antwort Jesu eher seelsorgerlicher Natur,
oder sie erscheint als Provokation.

Bei Frau Meier ist wohl eher Seelsorge nötig.
Darum kocht Herr Meier ihr jedes Mal, wenn sie sich Sorgen macht, einen Pfefferminztee.
Der hilft nicht wirklich gegen die Sorgen, aber er beruhigt.

Doch wie würde Anton aus Kästners Kinderbuch reagieren,
wenn Jesus ihn aufforderte, sich keine Sorgen zu machen?
Würde er sich nicht furchtbar aufregen?
Würde er nicht Jesus klagen, welche Last er als Kind schultern muss,
und dass er in der Schule von seinem Lehrer, Herrn Bremser, gescholten wird,
weil er so oft im Unterricht einschläft - dabei kommt das doch daher,
dass er bis spät in die Nacht arbeitet,
um ein bisschen Geld zum Leben zu verdienen.
Vielleicht würde er sogar weinen vor Wut - oder aus Enttäuschung.

„Sorgt euch nicht” - das kann vielleicht wirklich nur jemand sagen,
der mit einem silbernen Löffel im Mund aufgewachsen ist,
oder mindestens in Verhältnissen, in denen es immer genug gab:
Genug zu Essen, genug Liebe, genug Sicherheit und Frieden.

Auch zur Zeit Jesu wird es solche Leute wie Anton gegeben haben:
Leute, die nicht wussten, wie sie den nächsten Tag überstehen sollten.
Ob die etwas anfangen konnten mit den Vögeln unter dem Himmel
und den Lilien auf dem Felde?
Mussten sie diesen Vergleich nicht zynisch finden?
Was nützt es, dass mein himmlischer Vater die Vögel nährt und die Lilien kleidet,
wenn ich nicht weiß, woher ich etwas zu Essen bekommen soll?

Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson hat dazu geschrieben:
„Consider the lilys is the only commandment I ever obeyed” -
„Seht die Lilien ist das einzige Gebot, das ich je erfüllt habe.”
Das sagt sie nicht nur als Dichterin, die Augen für die Schönheit hat.
Das ist auch ihre Antwort auf die Aufforderung Jesu, sich keine Sorgen zu machen.
Da ihr das nicht gelingt, bleibt ihr nur, die Lilien anzuschauen.
Doch vom Anschauen der Lilien wird einem nicht warm,
wie man auch nicht satt wird, wenn man Vögel beobachtet.

Jesus kann nicht gemeint haben,
dass man einfach in den Tag hinein leben soll.
Auch verlangt er nicht, darauf zu warten, dass Essen vom Himmel fällt
wie das Manna, das die Israeliten in der Wüste fanden.
„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit,
so wird euch das alles zufallen”
- dabei legt man nicht die Hände in den Schoß.
„Trachten” ist dasselbe wie erstreben,
eine ernsthafte und anstrengende Tätigkeit.

Auch Sorgen sind anstrengend.
Aber diese Anstrengung verpufft, weil sie zu nichts führt -
außer, dass man dasitzt, grübelt und immer hoffnungsloser wird.
„Sorgt euch nicht” ist für Jesus nicht Tatenlosigkeit,
sondern ein Umlenken der Kräfte auf etwas,
das die Anstrengung wirklich lohnt: Das Reich Gottes.

In dem Bilderbuch „Frau Meier, die Amsel” findet Frau Meier
ein Amseljunges im Garten, das aus dem Nest gefallen ist.
Jetzt hat sie allen Grund zur Sorge - und alle Hände voll zu tun.
Es ist ziemlich anstrengend, einen Jungvogel aufzuziehen;
Frau Meier muss sich Tag und Nacht um den kleinen Vogel kümmern.
Am schwersten ist es aber, ihm das Fliegen beizubringen,
weil Frau Meier das als Mensch natürlich nicht kann.
Hier liegt die Pointe der Geschichte: Frau Meier lernt zu fliegen
und stellt dabei fest: Es ist ganz einfach!

In einem Kinderbuch können Menschen fliegen, einfach so.
Der Erwachsene, der das Kinderbuch vorliest,
versteht das Fliegen im Übertragenen Sinn: als frei sein.
Sorgen nehmen einen Menschen gefangen,
engen ihn so ein, dass er an nichts anderes mehr denken kann
als an das, was ihm solche Sorgen macht.
Man fühlt sich ohnmächtig und schwach.
Man sieht die Lilien nicht mehr und bewundert nicht ihre Schönheit,
man freut sich nicht am Flug der Vögel und an ihrem Gesang.

Wenn Jesus dazu auffordert, sich nicht zu sorgen,
meint er nicht, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe.
Auch Jesus sorgt sich - z.B. um die 5.000 Menschen, die seiner Predigt zuhören:
Er sorgt dafür, dass sie nicht hungrig nach Hause gehen müssen.
Dafür müssen er und seine Jünger ganz schön schuften,
um die fünf Brote und zwei Fische unter die Leute zu bringen
und hinterher die Brocken in ein Dutzend Körbe zu sammeln.

Indem Jesus uns die Sorge nehmen will,
möchte er uns die Freiheit schenken, von der Sorge abzusehen
und statt dessen z.B. die Lilien zu bewundern.
Denn dann lebt man.

Leben, das stellt Jesus im Abschnitt vor den Worten über das Sorgen fest,
Leben ist nicht das Besitzen von Dingen - einem Haus, einem Auto
und all dem, was uns die Werbung als begehrenswert vor Augen stellt.
Leben ist die Fähigkeit, die Schönheit zu sehen,
die uns umgibt und die uns begegnet.
Leben ist die Fähigkeit, etwas zu gestalten, Schönes zu erschaffen.

„Sorgt euch nicht” - wer von Jesus lernt, von der Sorge abzusehen,
lernt zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich lebenswichtig ist
und dem, was sich bloß wichtig nimmt,
was wir aber eigentlich gar nicht brauchen.

Wer lernt, die Lilien auf dem Felde in ihrer Schönheit zu sehen,
bekommt dadurch neue Perspektiven auf sein Leben,
auf sich und seine Mitmenschen.
Sieht Möglichkeiten, wo vorher nur Probleme waren;
sieht Auswege, wo es vorher scheinbar nur Sackgassen gab.

Vor allem aber entdeckt man das Leben und die Lebensfreude wieder,
die man zuletzt vielleicht als Kind erlebt hat,
als man unbeschwert und ohne Sorgen in den Tag hinein lebte,
mit anderen spielte und selbstvergessen Schönes erschuf.

Vielleicht ist die Aufforderung „Sorgt euch nicht”
deshalb auch eine Erinnerung an unsere Kindheit -
an das, was uns damals glücklich machte, was uns wichtig war,
was wir alles geschafft und geschaffen haben.

Auch wenn die Kindheit unwiederholbar vorbei ist:
Was uns damals glücklich machte, wird es auch heute noch tun.
Nehmen Sie ein Buch aus Kindertagen zur Hand,
erinnern Sie sich an Ihre Träume, Ihre Phantasie
und entdecken Sie die Schönheit der Lilien auf dem Felde wieder
und die Schönheit des Menschen, der Ihnen im Spiegel entgegenblickt. 

Sonntag, 1. September 2024

den Dom glänzen lassen

Predigt im Gottesdienst zur Einführung von Stefan Steinat als Küster der Domgemeinde am 14. Sonntag nach Trinitatis, 1.9.2024 über Psalm 26,8

Liebe Schwestern und Brüder,

da wir in diesem Gottesdienst Stefan Steinat als neuen Küster des Domes in sein Amt einführen, möchte ich mit Ihnen über dieses Gotteshaus nachdenken, in dem er ab heute zusammen mit unseren Küstern Birgit Kolenda und Stefan Grasmeyer seinen Dienst tun wird.

Wir wollen für unseren neuen Küster nicht nur den Heiligen Geist und Gottes Segen für seinen Dienst erbitten, sondern ihm auch einige gute Worte mit auf den Weg geben. Und, wer weiß, vielleicht ist auch  das eine oder andere gute Wort für uns mit dabei.

Über den Dom als Gotteshaus nachdenken heißt, über etwas nachdenken, was für die meisten von uns sehr vertraut ist, geradezu selbstverständlich. Lohnt das überhaupt? Kann dabei noch etwas für uns Neues herauskommen?

So vieles an unserem Glauben ist uns teilweise von frühester Kindheit an vertraut, ist lieb gewordene Gewohnheit, manchmal auch etwas lästige Pflicht. Alles in allem ist der Glaube etwas für uns Selbstverständliches. Wir denken nicht  darüber nach - wir brauchen nicht darüber nachzudenken, weil Vieles reflexhaft passiert, wie z.B. das Aufstehen zu den Lesungen.

Das muss so sein, wenn der Glaube nicht nur für besondere Momente im Leben reserviert sein, sondern unseren Alltag, unser Leben bestimmen soll. Aber wie das so ist mit Gewohnheiten und  Selbstverständlichkeiten - seien es in einer Beziehung Liebe und Nähe des Partners, der Partnerin, sei es das, was unseren Alltag erfüllt, unser Leben lebenswert macht: Man vergisst, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Sondern etwas Einmaliges, Wertvolles, sehr Besonderes, das man zumindest hin und wieder einmal bewusst wahrnehmen und würdigen sollte.

Wenn wir jetzt über den Dom nachdenken, geraten wir ins Staunen darüber, dass er schon 850 Jahre steht; wie schön er ist und wie gut erhalten. Und es ist auch erstaunlich, wie viele Menschen dieser Dom nach wie vor anzieht und in seinen Bann zieht.

Ich möchte dieses Nachdenken über unseren Dom  unter einen Vers aus dem 26. Psalm stellen, der uns später noch einmal begegnen wird:

„Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses
und den Ort, da deine Ehre wohnt.“

In diesem Vers geschieht, was auch wir gerade tun: Nachdenken über das Haus Gottes, das für den Psalmbeter damals so selbstverständlich war, quasi immer schon da war, wie für uns Heutige dieser Dom. Indem der Psalmbeter darüber nachdenkt, wird ihm bewusst, was er am Haus Gottes hat, was es für ihn bedeutet: Es ist der Ort, wo Gottes Ehre wohnt.

Gott, der Schöpfer der Welt, kann in einem Haus keinen Platz finden, und sei es noch größer als der Dom. Was von Gott damals im Jerusalemer Tempel und heute im Dom begegnet, ist ein Abglanz Gottes: seine Ehre, sein קבוד (Kabod).

Einmal ist damit Gottes Herrlichkeit gemeint. Ihr Abglanz auf dem Angesicht Moses war so gewaltig, dass die Israeliten nicht einmal diese Reflexion ertragen konnten, als würden sie direkt in die Sonne blicken. Darum musste Mose sein Gesicht verhüllen, wenn er mit Gott gesprochen hatte (2.Mose 34,29-35).

Hier im Dom ist solcher Abglanz nicht zu finden, dessen Anblick wir nicht aushalten könnten. Doch die Schönheit des Domes, die Schönheit seiner Ausstattung darf man wohl als einen Abglanz von diesem Abglanz verstehen. Eine Reflexion und einen Reflex auf den schönen Glanz Gottes, den wir erst in einem anderen Leben sehen werden.

Die Schönheit des Domes und die Schönheit im Dom, sie sind ein Fingerzeig auf Glanz und Herrlichkeit Gottes, wie Erde und Himmel solche Fingerzeige sind:

„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes
und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Ohne Sprache, ohne Worte;
unhörbar ist ihre Stimme“,

heißt es im 19. Psalm.
Und von der Erde als Schemel seiner Füße und dem Himmel als Thron Gottes singen wir:

„Wenn am Schemel seiner Füße
und am Thron schon solcher Schein,
o was muss an seinem Herzen erst für Glanz und Wonne sein!”
 (EG 510)

Es ist der Schluss a minori ad maius, der Schluss vom Kleinen auf das Große, der diese Beziehung zwischen der Schönheit des Domes und Gottes Herrlichkeit nahelegt.

Wenn wir in diesem gar nicht mal so kleinen Dom über die Schönheit und Erhabenheit dieses Raumes staunen, werden wir ganz still und ehrfürchtig, kommen wir ins Beten, das uns in Gottes Nähe versetzt.

Die Herrlichkeit Gottes, das ist die eine Seite des קבוד. Die andere Seite ist die Ver-herrlichung, die Verehrung Gottes. Das Haus Gottes ist der Ort, an dem Gott verehrt wird, in dem Gottes Verehrung zuhause ist: Im Gottesdienst nämlich, den wir gerade miteinander feiern.

Seit 850 Jahren beten, singen und musizieren Menschen hier, wird hier Gottes Wort gelesen und gepredigt, Abendmahl gefeiert und getauft. Der ganze Dom ist erfüllt und gesättigt von den Klängen zur Ehre Gottes, von Bitte und Dank oder, wo die Worte fehlten, von Weinen und Lachen. Wir bewegen uns darin wie Fische im Wasser. Wie in einer Atmosphäre, die auf uns abstrahlt und auf alle, die den Dom besuchen. Sie ist es, die uns in Wahrheit ergreift und ergriffen sein lässt.

Diese Atmosphäre bewegt uns dazu, selbst Gott die Ehre zu geben mit unseren Stimmen, unserem Musizieren, unserem Beten. Damit erfüllen auch wir diesen Raum des Domes, erhalten, bereichern und erneuern die Atmosphäre des Glaubens, auf dass auch künftige Generationen davon ergriffen werden mögen.

Der קבוד, die Ehre Gottes, hat also zwei Seiten: Eine passive, der Glanz und die Herrlichkeit Gottes, von der die Schönheit unserer Welt und dieses Domes ein Abglanz ist. Und eine aktive: die Ver-herrlichung Gottes durch unsere Verehrung. Die Verehrung ist aber zugleich auch etwas Passives, wenn sie uns als Glaubensatmosphäre im Dom ergreift. Und die Herrlichkeit Gottes hat auch etwas Aktives, denn die Schönheit des Domes, der Abglanz vom Abglanz dieser Herrlichkeit, muss ja erhalten werden.

Womit wir endlich beim Amt der Küsterin, des Küsters wären. Denn sie sind es - und nicht nur sie allein, aber herausgehoben vor uns allen durch ihr Amt -, die die Schönheit des Domes und seine Glaubensatmosphäre erhalten. Für eine Küsterin, einen Küster gilt das Psalmwort in besonderem Maße:

„Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses
und den Ort, da deine Ehre wohnt.“

Wäre das nicht so, wäre ein Küster nur ein Hausmeister - wobei ich diese wichtige Arbeit nicht schmälern will. Aber eine Kirche braucht mehr als eine Hausmeisterin. Sie braucht die Küsterin, den Küster, der die für uns so selbstverständlichen  und wichtigen Traditionen des Glaubens kennt, weil er, weil sie selbst darin lebt. Darum ist Küster nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. Ein Amt der Kirche, zu dem man berufen und für das man mit dem Heiligen Geist und dem Segen Gottes ausgerüstet wird.

Doch eine Küsterin, ein Küster allein kann es niemals schaffen, den Dom als Gotteshaus zu erhalten. Und wenn wir auch für ein Vierteljahr den Luxus von einer Küsterin und zwei Küstern im Dom genießen können, sind auch diese drei zu viel wenig für unseren großen Dom.

Darum sind wir alle mit dafür verantwortlich, diesen Dom als den Ort zu erhalten, an dem Gottes Ehre wohnt. Sei es, dass wir mit unseren Stimmen und Gebeten, unserem Musizieren zu der Atmosphäre des Glaubens beitragen; sei es, dass wir mithelfen beim Kirchenputz oder einfach dadurch, dass wir am Ende des Gottesdienstes unser Gesangbuch zurückbringen.

Die Mitarbeitenden bei der Domaufsicht und die Domführergilde gehören dazu, die es ermöglichen, dass Menschen diesen Dom erleben und von seiner Atmosphäre des Glaubens ergriffen werden können.

Die Mitglieder des Fördervereins, die mit Spenden und Mitteln, die sie beantragen, die Ausstattung des Domes erhalten und Kunstwerke erwerben, die heutigen Menschen in der Bildsprache unserer Zeit einen Abglanz vom Abglanz der Herrlichkeit Gottes vermitteln.

Last, but not least gehören auch die Kirchenältesten dazu, und da besonders die Mitglieder des  Bauausschusses, die zusammen mit Fachleuten und den Mitarbeitern der Kirchenkreisverwaltung so viel für die Erhaltung dieses Bauwerks getan haben und tun.

Wir alle bemühen uns nach Kräften, nach unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten darum, dieses Gotteshaus zu erhalten und mit Glauben zu erfüllen. Ich möchte das heute einmal ausdrücklich feststellen, weil es alles andere als selbstverständlich ist - und weil es gleichzeitig so wunderbar ist, dass es geschieht:

    Wir alle bemühen uns nach Kräften, nach unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten darum, 
    dieses Gotteshaus zu erhalten und mit Glauben zu erfüllen.

Heute möchte ich und hoffe ich, dass Sie sich bewusst machen,  was Sie alles für den Dom getan haben und tun. Dass Sie stolz darauf sind - stolz auf Ihre Leistung sind. Und dass Sie sich diesen Psalmvers  wie eine Auszeichnung an die Brust heften:

„Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses
und den Ort, da deine Ehre wohnt.“

Wenn Sie sich auf diese Weise die Worte des Psalms zu eigen machen, wird dieser Dom zu Ihrem Dom, zu Ihrem Zuhause oder, wie man früher sagte, zu Ihrer „guten Stube“. Denn er gehört ja niemandem von uns allein. Zur Ehre und Verherrlichung Gottes wurde er vor fast 30 Generation  von Leuten errichtet, die sich nie im Traum ausgemalt hätten, dass auch heute noch Menschen  die Arbeit ihrer Hände bewundern und erhalten würden.
Gebe Gott, dass es nach uns noch genauso viele Generationen sein werden.

Der Dom gehört Ihnen, er gehört uns allen. Er steht allen Menschen dieser Stadt offen, die in ihm Gottes Ehre und Herrlichkeit begegnen und Gott die Ehre geben wollen. Er ist ein Zuhause für alle, denen die Worte des Psalms aus dem Herzen sprechen:

„Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses
und den Ort, da deine Ehre wohnt.“