Ein Machthaber fühlt sich bedroht.
Eine andere Macht ist an den Grenzen seines Landes aufgetaucht.
Er fürchtet, dass sie ihm wichtige Rohstoffe streitig machen wird.
Er plant einen Präventivschlag:
Er will diese andere Macht angreifen,
bevor sie sich in seiner Nachbarschaft festsetzen kann.
beauftragt er einen Influencer:
Er soll sein Volk gegen die Fremden aufhetzen
und es zu einem Krieg anstacheln.
Die fremde Macht soll er als schwach darstellen,
als feindlich und minderwertig.
So will der Machthaber sich einen Vorteil verschaffen,
damit er die Fremden besiegen kann.
die in Palästina lebten.
Die fremde Macht, die an seinen Grenzen auftaucht,
ist das Volk Israel, dessen Fluchtweg
aus Ägypten durchs Land Moab führt.
Und der Influencer, der die Israeliten schlecht machen soll,
ist Bileam, der aus Aram stammt, dem heutigen Iran.
gegen das Volk Israel zu agitieren
und reist dazu nach Moab, zu König Balak.
Aber seine Eselin, auf der er reitet,
weicht von der Straße ab und rennt querfeldein.
Nur mit Schlägen kann er sie auf den Weg zurück bringen.
Wieder weicht seine Eselin aus.
Ganz eng drückt sie sich an der Mauer entlang,
sodass Bileams Fuß eingequetscht wird.
Voller Wut schlägt er sie noch mehr,
bis sie endlich wieder in der Mitte des Weges läuft.
dass kein Ausweichen mehr möglich ist,
weder zur Rechten noch zur Linken.
Die Eselin bleibt stehen
und knickt mit den Vorderbeinen ein.
In blinder Wut prügelt Bileam auf sie ein.
Da hört er sie sprechen:
„Bin ich nicht deine Eselin, auf der du geritten bist von jeher?
War es je meine Art, mich so zu verhalten?”
Man denkt spontan: Weil seine Eselin spricht.
Aber sprechende Esel gibt es nicht.
Vielmehr begreift Bileam in diesem Moment,
dass seine Eselin sich anders verhält als sonst.
Niemals ist sie so störrisch gewesen.
Es muss einen Grund geben,
dass sie jetzt nicht mehr weitergehen will,
obwohl er sie so heftig schlägt.
Kein liebes, putziges, kleines Engelchen.
Auch keiner von den Engeln mit Dauerwelle,
die auf dem Loste-Altar zu sehen sind.
Ein gebieterischer und furchterregender Engel steht ihm gegenüber.
Das Schwert in seiner Hand bedeutet Bileam:
Keinen Schritt weiter.
dass man den Engel erkennt, der vor einem steht?
Bileams Augen sind ja offen, er kann ja sehen -
und sieht doch die Gefahr für sein Leben nicht, den tödlichen Engel,
dem seine treue Eselin dreimal ausweicht, um Bileam zu retten.
dass manches anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint.
Auf die Entfernung kann man Dinge oder Personen leicht verwechseln;
im Zwielicht, in der Dunkelheit täuschen die Schatten etwas vor,
das gar nicht existiert.
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Manchmal will man etwas nicht sehen.
Und manchmal sieht man etwas,
weil man felsenfest davon überzeugt ist, dass es da sein muss.
der die Dinge wahrnimmt, wie sie sich zeigen,
kommt der zweite Blick,
der die Fassaden, die Masken und Schleier durchdringt.
Das Wissen, dass das, was man sieht, oft nicht alles ist;
dass das, was man sieht, nicht unbedingt wahr sein muss
und dass unsere Sinne uns manchmal einen Streich spielen.
etwas könnte nicht so sein, wie es dargestellt wird?
Wie kommt es dazu,
dass jemand am Alltäglichen, Gewohnten zu zweifeln beginnt?
zeigt Bilder, die diesen Moment des Zweifels festgehalten haben.
Sie zeigt Räume, Gebäude, Dinge,
Erst die Geschichte, die sich mit diesen Spuren verbindet,
lässt erkennen, dass diese Bilder den Übergang zeigen:
die Wende von der staatlich verordneten Sicht auf die Welt
hin zum Erkennen der Hintergründe und Absichten,
der Fehler, der Gemeinheiten und der Verbrechen:
die Entdeckung des zweiten Blicks.
Ein leerer, unscheinbarer, langweiliger Raum.
Erst mit dem zweiten Blick sieht man,
was auf diesem Foto abgebildet ist:
Der Raum, in dem im Oktober 1989
die Plakate für die erste große Demonstration gemalt wurden.
Die erste Demonstration, die nicht der Staat,
Mit diesem zweiten Blick spürt man,
dass dieser Raum für kurze Zeit ein Freiraum war,
in dem Hoffnung und Wut geäußert und geteilt wurden.
Und zugleich spürt man die Angst vor der Staatsmacht,
die jeder und jedem im Nacken saß.
War es je meine Art, mich so zu verhalten?”
Bileams Augen werden geöffnet,
weil er merkt, dass seine Eselin sich anders verhält als sonst.
Es dauert lange, bis er es endlich merkt.
Dabei ändert sich das Verhalten der Eselin schlagartig,
nicht schleichend und allmählich,
wie Veränderungen sonst vonstatten gehen.
was als Wirklichkeit erscheint,
was als unvermeidlich oder unveränderlich dargestellt
oder als Meinung der Mehrheit ausgegeben wird,
diese Fähigkeit erwacht, wenn man Veränderungen bemerkt.
Weil der erste Blick getrübt ist.
Abgestumpft von den immer gleichen Bildern;
eingelullt von Wiederholungen der ewig gleichen Stereotype,
über die man sich anfangs noch aufregt,
bis man sie schließlich als etwas Unvermeidliches hinnimmt.
Ein Wissen, das sich aus einer Quelle speist,
die nicht getrübt werden kann: Aus Gottes Wort.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott von dir fordert” (Micha 6,8).
den wir an die Wirklichkeit anlegen
und an dem wir sie messen.
mit der wir die Worte abwägen, die Parolen,
die Etiketten, die Menschen verpasst werden, und - ja,
auch diese Predigt.
der uns den Weg zeigt,
wenn wir die Orientierung verlieren
oder wenn uns jemand eine Richtung aufzwingen will.
Und manchmal, wie in der Geschichte von Bileam,
begegnet es uns als Engel.
Und zu Engeln werden wir, wenn wir anderen wohlwollen.
„Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten,
die da Frieden verkünden, Gutes predigen, Heil verkündigen” (Jes 52,7).
Wir sehen sie nicht, weil wir sie uns anders vorstellen, als sie sind:
als kleine, niedliche Putten oder blonde, dauergewellte Flügelwesen.
Erst der zweite Blick zeigt sie uns.
der infrage stellt, was uns als wahr und wirklich erscheint.
Der zweite Blick ist auch der Blick,
der Schönheit erkennt, und dass jeder Mensch liebenswert ist.
Er blickt durch die Brille der biblischen Verheißungen auf unsere Welt
und sieht, was möglich wäre:
dass Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln werden
und jeder Mensch in Frieden
unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen könnte,
und niemand würde sie schrecken (Micha 4,3-4).