Sonntag, 13. April 2025

reden und hören wie eine Schülerin

Predigt am Sonntag Palmarum, 13. April 2025, über Jesaja 50,4-9


Der Herrgott lehrte mich Schülersprache,
so weiß ich ein Wort für die Erschöpften. Er weckt mich
am Morgen. Am Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich wie Schüler höre.
Der Herrgott öffnete mir das Ohr,
und ich sträubte mich nicht, wich nicht zurück.
Meinen Rücken bot ich den Schlägern dar und meine Wange den Bart-Raufern.
Ich verhüllte mein Gesicht nicht vor Beleidigungen und Spucke.
Der Herrgott hilft mir; darum werde ich mich nicht schämen müssen.
Darum mache ich mein Gesicht steinhart und weiß: ich werde nicht beschämt.
Mein Anwalt ist nah, wer will mit mir streiten? Tretet ruhig zusammen vor!
Wer will gegen mich prozessieren? Der trete gegen mich an!
Sieh, der Herrgott hilft mir, wer will mich verurteilen?
Sieh, sie alle zerfallen wie Kleidung, die von Motten zerfressen wurde.

(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

„von wem redet der Prophet,
von sich selber, oder von jemand anderem?“
(Apg 9,34)

Diese Frage eines äthiopischen Finanzministers
wird heute noch genau so gestellt wie damals,
als der Kämmerer aus Äthiopien sich vom Apostel Philippus
das Buch des Propheten Jesaja auslegen ließ.
Bis heute ist sich die Forschung nicht einig,
wer das „Ich” in den sog. „Gottesknechtsliedern” bei Jesaja ist,
zu denen auch der heutige Predigttext gehört.

Aber ehe auch wir darüber spekulieren,
wer da spricht, lassen Sie uns anschauen,
was von diesem Gottesknecht erzählt wird.
Vielleicht haben wir dann eine Ahnung,
wer dieser Knecht sein könnte.

I

Dem Gottesknecht wird übel mitgespielt.
Er wird auf den Rücken geschlagen, und ihm wird der Bart gerauft.
Den Bart gerauft zu bekommen ist unangenehm und schmerzhaft.
Doch so etwas passiert nicht bei einem Raubüberfall.
Wer den Bart gerauft bekommt, soll damit gedemütigt werden.
Der Gottesknecht fiel also nicht unter die Räuber,
er wurde nicht verhauen,
sondern musste eine demütigende Strafe über sich ergehen lassen.
So wie der Prophet Jeremia,
der über Nacht in den Block eingeschlossen wurde (Jer 20,2).
Oder wie Paulus, der folgende Bestrafungen aufzählt:
„Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen;
ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden.”
(2.Kor 11,24f)

Jeremia und Paulus wurden wegen ihrer Predigten bestraft.
Sie sagten, was die Obrigkeit nicht hören wollte
und was auch die Leute nicht hören sollten.
Wie in autoritären Staaten Regimekritiker und Dissidenten
mit Stöcken geprügelt, verhaftet und eingesperrt werden,
sollten auch Jeremia und Paulus, soll auch der Gottesknecht
eingeschüchtert und mundtot gemacht werden.
Die Schläge, die Demütigungen sollen ihn entmutigen,
ihn mürbe und müde machen,
sodass er schließlich das Predigen aufgibt.

Aber der Gottesknecht ist alles andere als müde.
Er ist hellwach.
Gott weckt ihn jeden Morgen aufs Neue.
Nicht, damit er nicht verschläft. Das Wecken bedeutet:
Der Gottesknecht findet jeden Morgen wieder Kraft und Lebensmut,
um seine Botschaft zu verkündigen -
trotz aller Drohungen und Demütigungen,
seinen Gegnern zum Ärger
und seinen Zuhörer:innen zu ständiger Provokation.

II

Gott weckt die Lebensgeister seines Knechtes,
und er weckt ihm das Ohr.
Heute würden wir sagen: Er „sensibilisiert” ihn.
Denn wie beim Sehen gilt auch beim Hören:
Man hört nur, was man kennt.
Wenn man nicht weiß, worauf man hören soll,
geht das, was man hören muss, unter.

Da gibt es die Geschichte von einem, der auf dem Land lebt
und seinen Freund in der Großstadt besucht.
Als sie beide zusammen durch die Straßen schlendern,
macht er seinen Freund auf ein Geräusch aufmerksam,
das aus einer Hecke kommt: „Hör mal,” sagt er, „eine Grille!”
Der Freund staunt: „Wie gut du hören kannst!
Ich habe die Grille bei dem Straßenlärm nicht hören können!”
Der Freund sagt: „Das hat nichts mit meinem Gehör zu tun.
Pass mal auf!” Mit diesen Worten wirft er eine Münze auf das Pflaster.
Sofort drehen sich mehrere Leute nach dem Klang der Münze um,
einer hebt sie schnell auf und steckt sie ein.

Gott weckt also das Ohr seines Knechtes,
um ihn zu sensibilisieren für das, was er hören soll.
Und nun hört der Knecht, wie Schüler hören.
Aber sind Schüler:innen sensible Hörer:innen?
„Du hörst wie ein Schüler!” - das würde ich nicht als Kompliment empfinden.
Denn Schüler:innen gelten im besten Fall als selektive Hörer:innen:
Sie hören nur, was sie wollen - und wenn sie wollen.
Wenn der Stoff spannend ist, oder „klausurrelevant”,
dann hören sie vielleicht aufmerksam zu.
Ansonsten schalten sie die Ohren auf Durchzug.

Anders verhält es sich, wenn einem etwas erklärt wird,
was man dann selbst ausführen soll -
als Lehrling etwa, oder in der Fahrschule.
Da passt man genau auf, um es nicht zu vermasseln.
Ich denke, dieses Hören ist gemeint:
Der Gottesknecht hört auf Gottes Wort,
das er anschließend weitersagen soll.
Wer Gottes Wort verkündigt,
muss sich damit auseinandersetzen, darüber nachdenken.
um nicht die eigenen Interessen und Ansichten zu vertreten,
sondern Gott die Ehre zu geben.

III

Gott öffnet seinem Knecht das Ohr, sodass er hört, wie Schüler hören.
Und er gibt ihm die Sprache der Schüler.
Man könnte dabei an Martin Luther denken,
der bei seiner Übersetzung der Bibel „dem Volk auf’s Maul schauen” wollte.
Aber nichts ist so peinlich wie ein Erwachsener,
der versucht, wie Jugendliche zu reden.

Trotzdem haben Schüler:innen eine Art zu sprechen,
die auch Erwachsenen gut zu Gesicht stehen würde.
Wenn Schüler:innen sich im Unterricht melden,
geschieht das selten im Brustton der Überzeugung.
Meistens klingt das, was sie sagen, wie eine Frage -
weil sie sich nicht sicher sind, ob es richtig ist.
Eine Schülerin weiß mit Sokrates, dass sie nichts weiß.
Erst mit zunehmendem Alter kommt die Selbstsicherheit dessen,
der auf alles eine Antwort hat, alles besser weiß.

Der Gottesknecht, der wie ein Schüler redet, ist ein Lernender und Fragender.
Dadurch hat er ein Wort für die Erschöpften.
Nicht, indem er ihnen einen Ratschlag gibt oder ihnen einen Vortrag hält.
Sondern indem er sie selbst das Wort finden lässt, das sie brauchen.
Sie finden es, weil er ihnen zuhört, sich für sie interessiert.
Dieses lebendige Interesse weckt die Erschöpften:
Sie finden ihren Mut, ihre Lebenslust wieder;
sie entdecken, was ihnen am Herzen liegt,
wenn sie dem Gottesknecht davon erzählen.

IV

Der Gottesknecht animiert die Erschöpften.
Die beginnen zu sagen, was sie bewegt.
Allen anderen macht er eine Ansage:
Er verkündigt ihnen Gottes Wort.
Das bringt ihm Ärger und Feindschaft ein.
Es kommt zum Prozess.
Dabei ist nicht an einen der Schauprozesse gedacht,
mit denen über Regimekritiker ein Urteil gefällt wird,
das schon vorher feststand.

In einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren geht es um die Wahrheit.
Das Gericht tritt zusammen, um die Wahrheit herauszufinden.
Die Wahrheit, die der Gottesknecht verkündigt - Gottes Wort -
steht gegen das, was seine Gegner vertreten.
In diesem Prozess der Wahrheitsfindung ist Gott nicht Richter,
sondern Anwalt seines Knechtes.

Denn nicht Gott entscheidet, was Wahrheit ist.
Sondern Gottes Wahrheit erweist sich dadurch,
dass eintritt, was sein Knecht ansagt.
Darum erntet er Widerspruch, darum macht er sich Feinde:
Weil er Dinge ansagt, die man nicht hören will,
weil das nicht wahr, nicht wirklich sein soll.
So leugnen heute viele den Klimawandel und meinen,
damit würden sie ihn verhindern.
Oder es wird per Dekret verfügt, es gäbe nur zwei Geschlechter,
und damit sei eine Wahrheit über uns Menschen ein für allemal festgelegt.

Der Gottesknecht verkündet die Wahrheit über den Menschen,
wie er im Lichte des Wortes Gottes erscheint.
Diese Wahrheit ist nicht leicht zu ertragen,
weil sie die Vorstellungen, die man von sich selbst
und von anderen hat, als Illusionen entlarvt.
Seine Gegner wollen das nicht hören.
Sie wollen an ihren Illusionen festhalten,
sich nicht der Wirklichkeit stellen.
Und meinen, sie könnten es verhindern,
indem sie ihm den Mund verbieten, ihn mundtot machen.
Aber die Wahrheit über uns Menschen lässt sich nicht verbieten.
Sie setzt sich immer durch, weil sie Gott als Anwalt hat,
weil sie Gottes Wort ist.

V

Mit dem, was der Gottesknecht verkündet,
verstört er die Leute, unterbricht ihren Geschäfte, ihren Alltag.
Nicht, weil er ein Störenfried wäre,
Freude daran hätte, etwas kaputt zu machen.
Sondern weil seine Botschaft, weil Gottes Wort verstörend wirkt.
Man könnte fast sagen:
Würde seine Botschaft nicht verstören, wäre sie nicht Gottes Wort.
Denn Gottes Wort ist das Wort, das wir uns nicht selber sagen können.
Es ist das Wort, das uns und unsere Sicht der Dinge infrage stellt,
um uns vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Der Gottesknecht sagt den Menschen dieses Wort,
obwohl es ihm nichts als Ärger einbringt.
Er will nicht, dass eintritt, was er ansagen muss.
Er ist bereit, selbst Leid zu ertragen,
um das Leid, das er ankündigen muss, abzuwehren,
Er nimmt das Leid auf sich, das er androht,
damit die, die seine Botschaft hören, nicht leiden müssen.
So etwas tut man aus Liebe.
Aus grenzenloser, umfassender Liebe.

VI

Damit dürfte klar sein, wen ich hier als Gottesknecht beschrieben habe:
Es ist Christus, der aus Liebe zu uns auf sich nahm, worunter wir leiden,
damit wir nicht mehr darunter leiden müssen.

Wir können das nicht nachahmen.
Wir können es nicht, und wir sollen es auch nicht.
Trotzdem hat Christus uns damit ein Beispiel gegeben.
Niemand ist zu alt, Schülerin oder Schüler zu sein:
Zu reden wie ein:e Schüler:in, und zu hören wie ein:e Schüler:in.
Jede und jeder von uns ist dazu berufen, die Wahrheit zu sagen,
uns selbst und anderen den Spiegel des Wortes Gottes vorzuhalten.

Dieser Spiegel zeigt uns unverblümt, wer und wie wir wirklich sind.
Der erste Blick in den Spiegel beschert eine Enttäuschung,
vielleicht sogar eine Kränkung.
Der zweite Blick befreit uns.
Denn die Wahrheit über uns ist nicht,
dass wir Sünderinnen und Sünder sind,
fehlerbehaftet, unvollkommen, schlecht.
Die Wahrheit über uns ist,
dass Christus uns so liebt, dass er für uns erlitten hat,
worunter wir leiden, damit wir frei sind.

Im Spiegel des Wortes Gottes sehen wir die Wahrheit, die uns frei macht:
Wir sind Gottes geliebte Töchter und Söhne, Schwestern und Brüder Christi.