Sonntag, 15. Juni 2025

es gut meinen

Predigt am Sonntag Trinitatis, 15. Juni 2025, über 2.Kor 13,11-13

Zuguterletzt, liebe Geschwister, seid fröhlich, lasst euch zurechtbringen, lasst euch ermahnen, seid einträchtig, haltet Frieden, dann wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen. Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Kollege von mir regte sich jedes Mal, wenn man ihm „alles Gute” wünschte, furchtbar auf: Alles Gute, das sei völlig übertrieben; außerdem wolle er alles Gute gar nicht haben - was bliebe dann für die anderen übrig? Das klingt spitzfindig und besserwisserisch - aber so war mein Kollege nicht. Er ärgerte sich darüber, wenn jemand Floskeln benutzte.

Mir hat das sehr imponiert. Floskeln gehören zu unserem Alltag - das höfliche Bitte-Danke-Gern-geschehen, die immer gleichen Wünsche: Glück und Gesundheit zum Geburtstag, oder eben der Wunsch „alles Gute”, der meinen Kollegen so aufregte. Ich fragte mich, wie ich es erreichen könnte, dass mein Gegenüber merkt, dass ich tatsächlich meine, was ich ihr oder ihm wünsche, und es nicht bloß so dahinsage.

Was soll man stattdessen wünschen? Tatsächlich wünscht man sich zum Geburtstag am meisten Gesundheit - jedenfalls, wenn man älter ist. Und so gut kennt man die anderen nicht, dass man wüsste, welche besonderen Wünsche sie noch haben könnten. In meiner Not begann ich, lieber gar nichts zu wünschen, um bloß keine Floskel zu verwenden. Aber das war auch nicht besser. Denn jetzt war mein Gegenüber enttäuscht, manche waren sogar beleidigt - und das zu recht: Wenn man keine guten Worte für die andere, den anderen hat, muss sie, muss er ja denken, man hätte nichts für ihn übrig.

„Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen” ist auch so eine Floskel. Besser gesagt: eine formelhafte Redewendung, die Paulus am Schluss seiner Briefe benutzt.

Jeder seiner Briefe endet mit so einer Formulierung. Da kann man sich mit meinem eifernden Kollegen schon fragen, wie ernst Paulus meint, was er da schreibt. Oder ob das einfach so eine Floskel ist, mit der man einen Brief abschließt. So, wie wir „Mit freundlichen Grüßen” auch dann schreiben, wenn unser Brief nicht freundlich ist oder wir für den Adressaten keine Freundlichkeit empfinden.

Aber wie sollte Paulus seine, wie sollten wir unsere Briefe sonst beenden? Jedesmal anders, je nach Absicht und Adressat? Mal freundlich, mal verbindlich, mal zornig? Würde uns jedes Mal etwas Originelles einfallen? Würden wir uns überhaupt diese Mühe machen wollen, wenn wir z.B. einen Geschäftsbrief schreiben müssten?

Eine Floskel wie „Mit freundlichen Grüßen” hat eine Funktion, hier: das Ende des Briefes anzuzeigen. Andere Floskeln benutzt man, um sein Beileid zu bekunden oder zum Geburtstag zu gratulieren. Das funktioniert ganz gut - kein Grund, daran etwas zu ändern. So eine Floskel tut aber noch mehr: Sie transportiert ein positives Gefühl.

Wenn wir jemandem „alles Gute” wünschen, denken wir normalerweise nicht an alles mögliche Gute, und das wollen wir unserem Gegenüber auch nicht aufzählen. Sondern wir wünschen, dass es ihr oder ihm gut gehen möge - gerade, weil wir wissen, dass es einem nicht immer gut geht. Und so ist unser guter Wunsch nicht nur eine weitere Worthülse auf dem Stapel der Floskeln und Phrasen, die andere bereits bei der betreffenden Person abgeladen haben. Sie ist auch eine Art Gutschein.

Ein Gutschein wird gern verschenkt, wenn man keine Zeit oder kein Geld für ein „richtiges” Geschenk hatte. Oder nicht wusste, was man schenken soll. Kinder basteln ihren Eltern oft Gutscheine: Sie möchten ihnen etwas Besonderes schenken und wissen, dafür reicht ihr Taschengeld nicht aus.

Also verpflichten sie sich per Gutschein zu Tätigkeiten, die ihren Eltern eine Freude machen, wie Rasen mähen, Müll rausbringen oder die Spülmaschine ausräumen. Der Gutschein ist sozusagen die Floskel unter den Geschenken; man zeigt damit, dass man den anderen gern hat und ihr, ihm gern ein besonderes Geschenk gemacht hätte.

Wenn man nun zum Geburtstag Glück, Gesundheit oder „alles Gute” wünscht, ist das auch ein Gutschein. Natürlich käme niemand auf die Idee, solche Wünsche einzufordern: „Du hast mir Gesundheit gewünscht. Jetzt, wo ich krank bin, hätte ich die gern von dir.” Wir können unsere guten Wünsche nicht erfüllen. Trotzdem meinen wir in der Regel, was wir wünschen. Wir meinen es gut. Und wären - prinzipiell - dazu bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten. Dieses „Prinzipiell”, das ist unser guter Wille, den wir durch die Floskel zum Ausdruck bringen.

Unser guter Wille ist ein Wille zum Guten. Wir sind bereit, Gutes zu tun, wir meinen es gut - auch mit dem oder der, der wir Gutes wünschen. Und wir tun das Gute - im Rahmen unserer Möglichkeiten, und wenn unser innerer Schweinehund uns lässt.

Darum sind die Floskeln in unserem Alltag so wichtig. Und darum sind sie mehr als Floskeln: Weil wir uns damit gegenseitig unseres guten Willens versichern.

Und was macht Paulus, wenn er „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen” wünscht? Er sagt uns damit, dass Gott es gut mit uns meint. Das klingt jetzt vielleicht wie ein Allgemeinplatz. Doch es gibt Momente im Leben, da kann man das nicht glauben - weil man das Gefühl hat, Gott habe eine:n im Stich gelassen oder sei jedenfalls sehr, sehr weit weg.

Andere können gar nicht hören, dass Gott es gut mit uns meint. Sie sind der Meinung, sie hätten das Gute nicht verdient. Ausgerechnet sie unter allen Menschen, für die Christus gestorben ist, seien so verderbt und verloren, dass sein Tod sie nicht retten könne.

Jemand Außenstehendes bemerkt sofort, dass dieser Gedanke nicht stimmt. Aber wer in sich selbst gefangen ist, kann eine solche Außenperspektive nicht wahrnehmen. Und deshalb auch nicht erkennen, dass er, dass sie sich nicht vom Heil ausschließen muss - ja, sich davon gar nicht ausschließen kann.

Paulus’ floskelhafter Wunsch gilt nicht nur für solche Extremfälle. Wir alle müssen es immer wieder zugesprochen bekommen, dass Christus auch für uns gestorben ist, dass Gott auch uns liebt und dass der Heilige Geist auch uns in die Gemeinschaft mit Gott und in die Gemeinde beruft. Das, was Paulus seiner Gemeinde wünscht, ist das Fundament einer christlichen Existenz; die Grundlage, auf der alles andere aufbaut. Und es gilt immer, unter allen Umständen.

Im 2.Korintherbrief geht Paulus mit seiner Gemeinde hart ins Gericht. Er kritisiert sie und droht ihnen bei seinem nächsten Besuch ein Donnerwetter an. Sein Wunsch am Schluss des Briefes fasst seine durchaus berechtigte Kritik in den Rahmen der Gnade Christi, der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes. So sehr Paulus auch schimpft, so dringend sich die Korinther ändern müssen: Ihr christliches Fundament spricht er den Korinthern nicht ab. Sie sind trotz allem gerechtfertigt, sie sind trotz allem Gottes geliebte Kinder, und trotz allem gehören sie zur Gemeinschaft aller Christen.

Dieser Grund-Satz, den Paulus aufstellt, prägt unser Miteinander. Uns allen ist, unabhängig davon, wer wir sind und was wir tun, die Gnade zugesprochen, die Christus uns durch seinen Tod vermittelt hat. Uns alle liebt Gott über alle Maßen als seine Kinder. Und wir alle gehören dazu - gehören zur Gemeinde und zur Kirche, niemand kann uns davon ausschließen.

Auf dieser Grundlage sehen wir im anderen Menschen immer die Schwester und den Bruder. Bei aller Kritik, bei allen Unterschieden, bei allem Widerspruch bleiben wir Geschwister. Das ist unsere christliche Streitkultur: Wir gehen unter der Voraussetzung miteinander um, dass die andere, der andere ebenso gerechtfertigt, geliebt und zugehörig ist wie wir. Mit dieser Streitkultur sind wir das Salz der Erde, ein Vorbild im Umgang miteinander für unsere Gesellschaft und für die ganze Welt.

Wünschen Sie also bitte weiterhin „alles Gute” - und meinen Sie es. Unterschreiben Sie „mit freundlichen Grüßen” - und denken Sie daran, dass auch dieser Adressat, über den Sie sich vielleicht gerade ärgern, Freundlichkeit verdient hat. Wünschen Sie sich zum Geburtstag Glück und Gesundheit - und sehen Sie ab und zu nach, ob es dem Menschen, dem Sie das gewünscht haben, auch tatsächlich gut geht.

Die Floskeln sind mehr als Floskeln, sind Worte, die von unserem guten Willen zeugen, nur, wenn sie auch für uns mehr sind als Floskeln: Wenn wir sie so meinen.

Dass Gott meint, was Paulus uns zusagt, darauf können wir uns verlassen. Denn Jesus ist im Vertrauen auf Gottes Zusage bis in den Tod am Kreuz gegangen, und Gott hat ihn nicht im Stich gelassen.

Versuchen wir, darauf zu vertrauen, dass der dreieinige Gott uns seine Vergebung, seine Liebe und seine Gemeinschaft schenkt. Versuchen wir, uns vom Wunsch des Paulus an seine Gemeinde in Korinth ansprechen und gemeint sein zu lassen. Dann werden wir nicht vergessen, es wirklich zu meinen, wenn wir einander „alles Gute” wünschen und dadurch Gottes Güte in der Welt ausbreiten.

Sonntag, 8. Juni 2025

Geistesgegenwart

Predigt über Johannes 14, 22-27 am Pfingstsonntag, 8.6.2025

Liebe Schwestern und Brüder,

aus den „Abschiedsreden Jesu“ stammt das Evangelium, der heutige Predigttext. Jesus spricht mit seinen Jüngern kurz vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane und nimmt von ihnen Abschied. Ihm bleibt nur noch wenig Zeit, und es gibt noch so viel zu sagen. Seine Zeit ist vorüber; er kann nicht mehr ihr Tröster sein. Ein anderer Tröster wird kommen, der für immer bleiben wird.

Anders als wir, die wir beim Abschiednehmen oft keine Worte finden, kauft Jesus die Zeit aus, die ihm noch bleibt: Gibt Antwort auf die Fragen seiner Jünger, fasst seine Botschaft zusammen, spricht ein Gebet.

Mit den Fragen der Jünger beginnt es. Fragen, die von Zweifel erfüllt sind. Fragen, die manchmal auch unsere Fragen sind: Wie können wir sicher sein, dass du tatsächlich Gottes Sohn bist, der Messias, der uns und der Welt den Frieden bringt?

I

Vier Jünger stellen jeweils eine Frage. Vier Fragen, die in das Herz des Geheimnisses führen, das der Glaube ist. „Wo gehst du hin?“, die erste Frage. Petrus stellt sie. Jesus antwortet: „Dahin, wo du mir nicht folgen kannst. Denn dazu müsstest du sterben.“

Das Ziel des Glaubens: Bei Gott sein, das Ende aller Zweifel und Fragen. Man erreicht es nicht im Leben, sondern erst nach dem Tod. Unserem Wunsch, Gott möchte sich uns zeigen, möchte erwei­sen, dass es ihn wirklich gibt, steht der Wunsch nach Autonomie entgegen: Wenn wir eins wären mit Gott, wäre sein Wille unser Wille; wären wir nicht mehr wir selbst. Es gäbe für uns nichts mehr zu entscheiden. Es gäbe keinen Irrtum mehr - und auch nicht die Freiheit, uns gegen das Gute, uns gegen Gott zu entscheiden.

„Welcher Weg führt zu Gott?“, stellt Thomas, der ungläubige Thomas, die zweite Frage. „Ich bin der Weg“, antwortet Jesus. „Wenn ihr wisst, wer ich bin, werdet ihr auch Gott erkennen.“

Auf dem Weg zu Gott nehmen Menschen vieles auf sich: Halten Vorschriften ein, folgen Bräuchen und Traditionen, üben Verzicht, ziehen sich aus der Welt in die Einsamkeit zurück. Von all dem spricht Jesus nicht, das alles ist nicht nötig. Nur eines betont er: „Ich bin der Weg. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

Wollen wir zu Gott vordringen, führt an Jesus, dem Sohn Gottes, kein Weg vorbei. „Jesus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, lautet die erste These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934. Es gibt für uns Christinnen und Christen keinen anderen Weg zu Gott. Wir kennen Gott nur durch das Leben des Menschen Jesus.

„Wie kann Gott sich in einem Menschen offenbaren?“, das ist die dritte Frage, die Philippus stellt. Das Göttliche stellen wir uns gewaltig vor, in jeder Beziehung größer und mächtiger als wir. Wie kann es sein, dass wir im Menschen Jesus dem allmächtigen Gott begegnen?

Jesus antwortet Philippus: „Du erkennst Gott nicht in mir, weil du dir Gott anders vorstellst, als er ist.“ Unsere Bilder, die wir uns von Gott machen, die uns gelehrt, uns anerzogen wurden, die wir aus der Tradition der Kirche übernahmen, diese Bilder stehen uns im Weg, wenn wir Gott suchen. Dass ein schwacher Mensch, Jesus, Gott verkörpert, über den andere lästerten, als er am Kreuz starb – das zu glauben fällt schwer.

Der einzige „Beweis“, den Jesus uns über seine Worte hinaus an­bietet, sind seine Taten: Dass er Blinde sehen machte und Lahme gehen, dass er sich Kranken, Armen, Ausgestoßenen zuwandte – all das spricht dafür, dass Jesus Gottes Sohn ist. Denn die hebräische Bibel beschreibt Gott als den, der auf der Seite der Armen, Schwachen und Rechtlosen steht und für sie eintritt.

II

Auf dem Weg der Einwände gegen Jesus, auf dem Weg des Zwei­fels kommt die vierte, die gewichtigste Frage. Judas stellt sie, der Jünger mit dem gleichen Vornamen wie der, der Jesus verriet. Es ist die Frage, die die Kritiker des Christentums stellen, und auch die Christen selbst:

Warum hat von seinen Zeitgenossen niemand bemerkt, dass Jesus Gottes Sohn ist – außer seine Jünger? Wenn Gott in unsere Welt einbricht: müsste das nicht zu spüren sein, müsste das nicht gewaltige Wellen schlagen? Jesus antwortet auf die Frage, indem er erklärt: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten“.

Auf den ersten Blick ist dieser Satz keine Antwort auf die Frage. Man muss einen kleinen Umweg gehen, um zu verstehen, dass er es doch ist.

„Was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?” Judas befindet sich Jesus gegenüber, als er ihm diese Frage stellt. Er befindet sich in der Gegenwart Jesu. Judas fragt, warum nicht alle Menschen diese Gegenwart erleben können, die er gerade erfährt. Judas fragt nicht nur für die Welt; er fragt auch für uns: Für die Gemeinde, die sich nach Jesu Auferstehung gebildet hat.

III 

„Wer mich liebt, wird mein Wort halten“, sagt Jesus. Die Liebe, von der Jesus spricht, ist etwas anderes als das Verliebtsein in einen ande­ren Menschen. Und hat doch viel damit gemein.

Dass Menschen sich ineinander verlieben, dass der Funke über­springt, kann man nicht „machen“. Es geschieht einfach - oft auf eine Weise, die zeigt, wie machtlos wir gegen die Macht der Liebe sind. Man verliebt sich in jemanden, die, der so gar nicht zu dem Bild passt, das man sich von seiner Traumfrau, seinem Traum­mann gemacht hat – sondern ganz anders, nämlich: viel wunder­barer ist.

Oder es geschieht, dass man sich in einen Menschen verliebt, obwohl der schon an einen anderen Menschen gebunden ist, oder obwohl man selbst gebunden ist. Gegen alle Vernunft geschieht das, und man ist machtlos gegenüber dem, was da mit einem geschieht.

Mit der gleichen Macht bemächtigt sich Gott eines Menschen. Dass wir Jesus lieben – dass er uns verzaubert, dass uns der Weg, den er ging, einleuchtet und sein Wort uns ergreift – das „geschieht“ mit uns. Bei den Jüngern war es Jesus selbst, die Begegnung mit ihm, die sie verzauberte. Und bei uns? „Der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Es ist Gottes Geist, der uns von Jesus überzeugt. Gottes Geist ist da, wo Men­schen von Jesus verzaubert werden: Er verzaubert sie. Er ist da, wo Menschen von Jesu Worten ergriffen werden: Er ergreift sie. Der Heilige Geist war schon oft in uns und in unserem Leben am Werk: Wir haben es nicht gespürt, aber trotzdem war er da.

IV

Die Liebe zu Jesus hat viel mit der Liebe gemeinsam, die uns Menschen verbindet: Kinder mit ihren Eltern, Liebende miteinander. Auch in dem Missverständnis, dass die Liebste, der Liebste einem „gehört”, dass man ihn besitzt und ein Anrecht auf ihn hat.

Kinder wachsen heran, werden immer selbständiger. Am letzten Sonntag haben wir hier im Dom Konfirmation gefeiert - ein erster Schritt der Kinder in ein selbst bestimmtes, erwachsenes Leben. Wenn es gut ging, haben diese Kinder von ihren Eltern viel Liebe erfahren. Liebe, die sie in sich tragen und die ihnen hilft, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Denn ihre Eltern können und dürfen sie nicht mitnehmen, und die Eltern können und dürfen ihre Kinder nicht behalten - trotzdem sind und bleiben sie durch die Liebe verbunden.

Ebenso zwei, die sich lieben: Bei aller Liebe sind und bleiben sie zwei Einzelne, die alles teilen, viel gemeinsam haben - und dennoch auch unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Wünsche und Sehnsüchte haben. Die Liebe lässt der Partnerin, dem Partner den Raum, den er für sich braucht.

So ist es auch mit der Liebe zu Jesus: Jesus ist nicht zu haben und nicht zu halten. Das, woran man sich halten kann, ist sein Wort. Das Liebesverhältnis zu Jesus ist ein Glaubensverhältnis. Damit aus den Jüngern Jesu die Gemeinde werden kann, muss Jesus weggehen und der Tröster kommen, muss die Gegenwart Jesu eine Geistesgegenwart werden.

V

Jesus hat Abschied genommen und ist fortgegangen. Er lässt uns nicht allein zurück. Gottes Geist ist unter uns und wirkt in uns: er ergreift uns und macht uns ergriffen von Jesu Worten. Er hält uns auf seinem Weg und in seiner Liebe. Er zeigt uns Gott, wie er wirklich ist, wie sehr er uns liebt. Er hält uns den Spiegel vor, indem er uns an alles erinnert, was Jesus gelehrt hat, und nicht nur an das, was wir gern hören. Und er schenkt uns die Freiheit, Jesu Worte auf unsere Weise mit Leben zu füllen: Als erwachsene Christinnen und Christen, die selber für ihren Glauben einstehen können.

Der Abschied gehört zu unserem Christsein. Jedes Jahr an Himmelfahrt und Pfingsten werden wir daran erinnert, dass Jesus Abschied nehmen musste, damit wir seine Gemeinde werden können, die aus seiner Liebe, seinem Wort und seinem Frieden lebt. Jesus verabschiedet sich, damit das Leben einen neuen, geisterfüllten Anfang nehmen kann. Der Heilige Geist lehrt uns, was wirkliches Leben ist, wofür es sich lohnt zu leben und was unser einziger Trost ist – im Leben und im Sterben.