Sonntag, 29. Juni 2025

Gottes Fülle

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juni 2025, über Jesaja 55,1-5

Auf, alle, die ihr durstig seid, kommt zum Wasser!
Und wer kein Geld hat: kommt, kauft und esst,
kommt und kauft ohne Geld; Wein und Milch sind kostenlos.
Warum zahlt ihr Geld für das, was kein Brot ist,
und müht euch ab für das, was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, und ihr werdet Gutes essen und euch am Fett laben.
Achtet auf das, was ich sage, und kommt zu mir. Hört, und ihr werdet aufleben.
Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen:
die bleibende Verbundenheit mit David.
Sieh da, als Zeugen für die Völker setzte ich ihn ein,
als Anführer und Befehlshaber der Völker.
Sieh da, du wirst ein Volk rufen, das du nicht kennst,
und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen
wegen des Herrn, deines Gottes, des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

Liebe Schwestern und Brüder,

nach einer langen, beschwerlichen Wanderung verschwitzt in eine Gastwirtschaft einkehren und als erstes ein kühles Skiwasser trinken - was für eine Wohltat! Das Glas ist leer getrunken, bevor die Bedienung sich umgedreht hat; man bestellt gleich ein zweites hinterher. Wenn man den Durst auf so angenehme Weise löschen kann, ist er gar nicht so schlimm, ist Durst fast ein Genuss.

Schlimm wird Durst erst, wenn man vergaß, sich Geld für die Gastwirtschaft einzustecken. Oder wenn man nicht genug zu Trinken dabei hatte, und unterwegs keine Gelegenheit, die Flasche nachzufüllen. Dann kann Durst quälend sein. Zum Glück braucht man auch dann keine Angst zu haben, dass man verdurstet: Irgendwo findet sich immer ein Wasserhahn.

In anderen Teilen der Welt ist es schwer oder sogar unmöglich, an sauberes Trinkwasser zu kommen. Dort kann Durst tatsächlich lebensbedrohlich werden. Hunger und Durst - für Menschen in der sogenannten „Dritten Welt” stellen sie ernste Gefahren dar, während sie für uns eher Unannehmlichkeiten sind.

Trotzdem wecken Hunger und Durst auch bei uns elementare Ängste. Sie stehen deshalb nicht nur dafür, dass Wasser und Nahrung fehlen. Im übertragenen Sinn gebraucht, zeigen sie an, dass etwas Lebenswichtiges, etwas zum Leben Wichtiges fehlt.

Bloß - was? Das lässt sich nicht so genau sagen. Vielleicht so? „Das kann doch nicht alles gewesen sein, da muss doch noch Leben ins Leben”, wie Wolf Biermann singt. Aber wie viel ist Alles, und was fehlt einem noch, wenn man schon alles hat? Und was ist das Leben mehr als „Leben”, was muss außer dem Leben im Leben noch passieren?

Für manche wäre viel gewonnen, wenn sie nicht täglich eine Stunde mit zwei Kanistern durch glühende Hitze zum Fluss laufen müssten, um Wasser zum Trinken und für die Küche zu holen. Und anschließend zwei schwere Kanister zurück schleppen, voll mit ziemlich fragwürdigem - um nicht zu sagen: untrinkbaren - Flusswasser.

Was könnten Menschen aus ihrem Leben machen, müssten sie nicht stundenlang anstehen um etwas Getreide oder Reis, das ihnen die Staaten des reichen Nordens als Almosen geben, weil in ihrem Land Krieg herrscht. Krieg, der geregelte Arbeit, Landwirtschaft, Handel und Verkehr unmöglich macht.

Es ist kein donnerndes Leben, aber immerhin ein Leben, wenn man nicht jeden Tag viele Stunden dafür verwenden muss, etwas zu Essen und zu Trinken zu bekommen, nicht täglich Angst um sein Leben haben muss.

Und vielleicht ist es ein erfülltes Leben, wenn man etwas lernen oder anderen etwas beibringen kann. Wenn man Arbeit hat, von der man sich eine Wohnung und einen Urlaub leisten kann und auch im Alter noch genug zum Leben hat.

Vielleicht ist es ein erfülltes Leben, wenn das, was man tut, Freude macht und man dafür vielleicht sogar Dank und Anerkennung erfährt. Wenn man nicht allein ist, sondern jemanden hat zum Reden und Anlehnen, zum Lieben und geliebt Werden. Wenn man, wie am Freitag Abend in der „Nacht der Chöre” hier im Dom, mit anderen gemeinsam musizieren und mit seiner Musik vielen hundert Menschen eine Freude machen kann.

Oder ist das zu klein, zu bescheiden gedacht? Nach „donnerndem Leben” klingt es jedenfalls nicht. Es bleibt ein leiser Zweifel: Sollte das alles gewesen sein? Als gäbe es einen unausgesprochenen Auftrag, etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Etwas zu hinterlassen, wodurch man in Erinnerung bleibt. Oder wenigstens zu erhalten, was einem hinterlassen wurde.

Das Leben - ein Zeitraum, den man gestalten kann, ja, muss. Entsprechend minderwertig fühlt sich, wer nichts leisten, nichts aus seinem Leben machen kann wegen einer schweren Krankheit, wegen eines Handicaps, oder weil die Gelegenheit dazu nicht kommen wollte.

Wenn man nach der Logik von Ursache und Wirkung lebt, in Gewinnen und Verlusten rechnet und Geld als Maßstab für den Wert einer Sache ansieht, kurz: Wenn man ein moderner, aufgeklärter Mensch ist, muss man das wohl so sehen: Dass wir unsere Lebenszeit auskaufen müssen, sie nicht vergeuden dürfen, sondern etwas leisten, etwas schaffen, etwas werden, etwas aus uns machen müssen.

Die Bibel denkt anders über das Leben. Sie sieht es nicht als Verfügungsmasse, die wir zu gestalten hätten, sondern spricht von unserem Leben als einer Gabe und von Gott als dem Geber und Schöpfer des Lebens.

Er schenkt uns das Leben, ohne uns damit einen Auftrag zu geben und ohne von uns etwas dafür zu erwarten. Und er gibt die Erfüllung des Lebens gleich mit dazu: Unser Leben ist erfüllt von Gottes Nähe und Gottes Liebe.

Den unstillbaren Durst, den man manchmal spürt und den weder Alkohol löscht noch die Fülle an Dingen, die man kaufen und besitzen kann - diesen unstillbaren Durst stillt die Fülle Gottes. Man entdeckt und erlebt diese Fülle, wenn man das Leben als Gabe, als Geschenk anzunehmen und zu begreifen lernt.

Dann ist nichts zu klein oder zu unbedeutend, um schön zu sein und uns zu erfreuen. Jede Blüte, jedes Abendrot, jede Melodie, jede freundliche Geste, jeder Schluck Wasser und jeder Bissen Brot sind Geschenke, wenn man sie wert schätzen kann. In ihrer erstaunlichen Fülle, die wir jeden Tag erleben, erfüllen sie uns und unser Leben, lassen sie uns an der Fülle Gottes Anteil haben.

König David ist der Gewährsmann, der Zeuge dieser Fülle. Mit ihm hat Gott ein dauerhaftes Bündnis geschlossen. Durch die Generationen hinweg gilt dieser Bund. Für manche galt und gilt David dadurch als der Stammvater des messianischen Herrschers. Sie erwarten, dass Gott mehr tut, als dem Leben seinen Lauf zu lassen. Sie rechnen mit einem Plan, der am Ende alle widergöttlichen Mächte vernichtet. Der Friede, den die Bibel ersehnt und verheißt, muss ihrer Meinung nach mit Gewalt errungen werden.

Doch wurde der Bund nicht mit David allein geschlossen. Er schließt das ganze Volk Gottes mit ein, auch uns. David ist Gewährsmann, ist Zeuge dieses Bundes, weil er als Hirtenjunge zum König gesalbt wurde; weil er die Schwermut König Sauls mit seinen Liedern linderte; weil er Psalmen dichtete, in denen er die Fülle Gottes, die Welt als Schöpfung und das Leben als Gabe Gottes besang.

Auch wir werden zu Zeuginnen und Zeugen für Gottes Bund, wenn wir unser Leben als Geschenk annehmen. Unser Beispiel wird Schule machen. Andere werden an uns sehen, dass man das Leben nicht als eine unlösbare Aufgabe ansehen muss, damit etwas zu erreichen oder zu schaffen, sondern als Gabe verstehen kann.

Menschen, die wir nicht kennen, und Menschen, die uns nicht kennen, werden durch uns die Fülle des Lebens entdecken und die Schönheit, die in dieser Fülle liegt. Sie werden Erfüllung finden wie wir, ohne neidisch sein zu müssen, ohne Hass, und ohne Gewalt.

Unser Leben ist erfüllt - wir müssen diese Fülle nicht erst bewirken. Die Fülle wird auch nicht größer durch Dinge, die wir kaufen, durch das, was wir tun oder uns leisten. Denn unser Leben wird von Gottes Fülle erfüllt - und die ist größer als das Weltall; mehr geht nicht.

Wir dürfen darum einfach leben und jeden Tag als Geschenk annehmen mit seiner Fülle an Schönheit, an Freundlichkeit und Güte, die Gott uns schenkt. So werden wir zu Zeuginnen und Zeugen für Gott, breiten seine Liebe, seine Schönheit und seinen Frieden aus in der Welt. 

Dienstag, 24. Juni 2025

stehe ich richtig?

Ansprache zu Johannis, 24.6.2025, über Matthäus 3,1-12

Liebe Schwestern und Brüder,

„Eins, zwei oder drei - letzte Chance - vorbei!
Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht.”
Eine Ratesendung für Kinder, bei der sich drei Teams von Kindern für eine von drei möglichen Antworten entscheiden müssen. Dazu hüpfen sie auf das entsprechende Feld, wenn es heißt: „Eins, zwei oder drei …” Für einen bangen Moment die Frage: Stehe ich richtig? Das macht den Reiz dieses Ratespiels aus, für die teilnehmenden wie für die zuschauenden Kinder.
Stehe ich richtig? Diese Frage stellt sich auch uns manchmal: Wo stehe ich im Leben? Bin ich mit meinen Vorstellungen, meinem Verhalten, meinen Plänen noch auf dem richtigen Weg? Johannes stellt diese Frage. Und er sieht seine Zuhörer allesamt auf dem falschen Feld. Denn er ruft ihnen zu: Tut Buße! 

Poenitentiam agite! - Tut Buße! Mit diesen Worten wurde im Mittelalter der Ruf des Johannes aufgenommen und weitergegeben. Als Ruf zur Umkehr, zur Veränderung des Lebens tauchte er urplötzlich auf - und verschwand schnell wieder. Denn die Kirche brachte alle, die diesen Ruf äußerten, zum Schweigen …
Wie kam es, dass plötzlich jemand den Bußruf des Johannes aufnahm und weitersagte? Denn um ihn zu vernehmen, musste man ihn erst einmal gelesen haben. Die Bibel gab es aber im Mittelalter nur auf Latein - das nur wenige Gebildete verstehen konnten. Man konnte auch nicht einfach so in der Bibel lesen wie heute. Bücher wurden durch Abschreiben vervielfältigt und waren daher unerschwinglich. Doch die Mönche im Kloster, die die Bücher abschrieben, die kamen an den Text, und sie konnten Latein.

Aber auch das führte noch nicht dazu, dass jemand den Bußruf des Johannes aufnahm und weitergab. Denn die Kirche gab den Rahmen vor, in dem die Texte der Bibel gelesen und verstanden wurden. In diesem Rahmen war „Buße” die vom Priester bei der Beichte auferlegte Strafe. Irgendjemand muss sich gefragt haben, ob das so richtig war. Denn die Propheten des Alten Testaments verstanden unter „Buße” mehr: Sie meinten damit die Umkehr von einem verkehrten Weg - die Umkehr des und der Einzelnen, aber auch der ganzen Gesellschaft. Irgendjemand traute sich, diesen Gedanken auszusprechen und anderen mitzuteilen. Er fand Gehör bei Leuten, die unzufrieden waren. Eine Bewegung entstand, deren Motto der Bußruf des Johannes war, poenitentiam agite: Die Ketzer.

Von der Kirche wurden sie erbarmungslos verfolgt. Es gab sogar eine eigene Behörde zum Aufspüren und zur Verurteilung der Ketzer: die Inquisition. Der Aufwand war nötig, denn die Bewegung der Ketzer rüttelte am Machtmonopol der Kirche. Wenn jeder die Schrift auslegen konnte, war jeder gleich unmittelbar zu Gott. Dann brauchte es die Kirche nicht mehr als Vermittlerin des Heils und der göttlichen Gnade.

Ein paar Jahrhunderte später schlug ein Mönch namens Martin Luther 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Er wollte zu einer Diskussion über seine Thesen einladen. Auch er hatte in der Bibel gelesen und sich seine Gedanken gemacht. Auch er traute sich, der Lehre der Kirche zu widersprechen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass seine erste These die Worte „poenitentiam agite” enthält.

Auch Johannes der Täufer hatte in der Bibel gelesen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass der Ruf der Propheten zur Umkehr nicht Vergangenheit war, sondern Gegenwart: Er galt allen, die diese Worte lasen oder hörten. Jetzt, wo sich sein Cousin Jesus als der Messias entpuppte, eröffnete der Ruf zur Umkehr die Möglichkeit, ein neuer Mensch zu werden, ein neues Leben anzufangen. Das Untertauchen im Wasser, die Taufe, machte den Menschen nicht nur rein, sie machte ihn neu. Seine Geschichte von Fehlern, Enttäuschungen, Irrtümern, Verletzungen und peinlichen Missgeschicken musste man nicht mehr mit sich herumschleppen. Man konnte sie abspülen. Auf einmal gab es das Recht, ein anderer, eine andere zu werden.

Bei Johannes klingt es aber so, als gäbe es nicht nur das Recht, ein anderer zu werden, sondern auch die Pflicht, sich zu ändern: Der Messias wird mit der Worfschaufel die Spreu vom Weizen trennen. So hat man im Mittelalter die Ketzer als Spreu auf den Scheiterhaufen verbrannt. Doch es ist nicht an uns, zu entscheiden, wer Spreu ist und wer Weizen. Mit seiner Androhung will Johannes nur deutlich machen, wie nötig die Umkehr ist, wie ernst es Gott damit ist. Er maßt sich nicht an, zu entscheiden, wer umkehren kann und wer nicht - im Gegenteil: Wer meint, er stünde auf der richtigen Seite, wie die Pharisäer und Sadduzäer, den ermahnt er besonders.

Buße, oder mit einem modernen Wort: Reformation, hat nicht nur die Kirche immer wieder nötig. Auch wir tun gut daran, uns hin und wieder zu fragen, ob wir wirklich richtig stehn. Vor allem dann, wenn unsere Art zu leben den Spielraum und die Möglichkeiten unserer Mitmenschen einschränkt. Wenn wir unserer selbst und unserer Sache so sicher sind, dass uns nichts erschüttern kann - nicht einmal das Leid anderer.

Doch wenn wir umkehren, dürfen wir auch sicher sein, dass wir nicht zur Spreu gehören, sondern Weizen sind. Der Messias Jesus wird uns nicht verwerfen. Er sorgt dafür, dass wir richtig stehen und das Licht sehen.

Sonntag, 22. Juni 2025

Religion

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2025, über Johannes 5,39-47:

Jesus spricht: Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben. Und jene sind es, die über mich Zeugnis ablegen. Aber zu mir wollt ihr nicht kommen, damit ihr Leben habt.
Von Menschen nehme ich keine Ehre an. Vielmehr weiß ich, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, aber ihr habt mich nicht angenommen. Käme ein anderer in seinem eigenen Namen, den würdet ihr annehmen. Wie vermögt ihr zu glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, aber die Ehre vom einzigen Gott nicht sucht? Glaubt nicht, dass ich euch beim Vater verklagen werde. Euer Ankläger ist Mose, auf den ihr Eure Hoffnung gesetzt habt. Hättet ihr Mose geglaubt, hättet ihr auch mir geglaubt, denn von mir hat er geschrieben. Da ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

Liebe Schwestern und Brüder,

glaubst du noch - oder hast du schon Religion? „Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion,” schreibt Rudolf Bultmann in seinem Kommentar zum Johannesevangelium. „Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion” - eine steile These, mit der Bultmann den heutigen Predigttext in einem einzigen Satz zusammenfasst. Kaum zu verstehen, wie alle steilen Thesen. Bemühen wir uns, sie zu verstehen, wird uns das auch den Predigttext aufschließen. Lassen Sie es uns versuchen:

Rudolf Bultmann schreibt diese steile These als Kommentar zum ersten Satz des Predigttextes: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben.” Warum ist dieses Forschen in den Schriften ein Zeichen von Religion, und warum wiegt die Religion in falscher Sicherheit? Wir tun doch gerade genau dasselbe: Wir forschen in der Schrift und sehen uns den Text genau an. Offenbar kommt es auf das Wie an: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben.” Jesus unterstellt, seine Gegner hätten in der Schrift schon etwas gefunden, bevor sie zu suchen begannen: Das ewige Leben.

Das ewige Leben, das sie in der Schrift finden, ist nicht das Ticket ins Paradiens. Auch sind es keine himmlischen Geheimnisse, die nur bei intensivem Bibelstudium offenbart werden. Es handelt sich dabei auch nicht um etwas Zukünftiges, das erst nach Tod und Auferstehung eintritt. „Ewig” im Sinne der Bibel ist allein Gott. „Ewiges Leben” ist damit das Leben, das Gott gibt: Ein Leben in der Verbindung mit Gott, ein erfülltes, sinnvolles Leben.

Dieses Leben meinen seine Gegner bereits dadurch zu haben, dass sie in der Schrift forschen. Sie finden es nicht durch ihr Bemühen um Verstehen, wie wir es gerade versuchen. Sie „haben” es als Folge der Tätigkeit des Forschens an sich. Überspitzt gesagt: Wer in der Bibel liest, hat ewiges Leben - ganz gleich, was man liest und ob man etwas findet und versteht. Nicht das Ergebnis zählt, sondern allein die Tätigkeit an sich. Wenn aber die Tätigkeit unabhängig vom Ergebnis zählt, wenn es gar nicht auf ein Ergebnis ankommt, dann hat dieses Tun keinen wirklichen Sinn. Es ist l’art pour l’art, Tun um des Tuns willen.

Es ist das, was eine Künstlerin tut: l’art pour l’art, Kunst allein um der Kunst willen, ohne einem anderen Zweck zu dienen als der eigenen Wahrheit. Eine Wahrheit, die die Künstlerin in sich selbst findet, aus sich selbst heraus schöpft. So finden die Gegner Jesu in der Bibel die Wahrheit, die sie selbst hineingelegt haben. Findet man in der Bibel aber nur das wieder, was man schon kennt, ist sie nicht Wort Gottes.

Wenn man die Bibel als „Wort Gottes” bezeichnet, meint man damit, dass Gott durch die Worte der Bibel zu uns spricht. Das bedeutet nicht, dass diese Worte der Bibel dadurch heilig, unfehlbar, geistgewirkt seien. Sondern dass sie uns gegeben sind, um in ihnen Gottes Stimme zu finden. Wenn man aber schon weiß, was man finden wird - wie soll man da die Stimme Gottes vernehmen?

Jesus kritisiert an seinen Gegnern, dass sie den Text der Bibel nicht als ein Gegenüber ansehen, als ein Subjekt, das ihnen gegenübertritt und sie in ihrer Sicherheit erschüttert. Sie vereinnahmen den Text für sich, machen ihn zu einem Objekt, in dem sie ihre eigene Wahrheit bestätigt finden.

Diesen Umgang der Gegner Jesu mit der Schrift bezeichnet Rudolf Bultmann als „Religion” und meint das nicht in einem positiven Sinn. Was kennzeichnet „Religion”? Zum einen das Tun um seiner selbst willen. Zum anderen der Umgang mit der Schrift als einem Objekt, das eigenen Zwecken dient, nicht einem Subjekt, das mich herausfordert und hinterfragt.

Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, Zeitgenossen Rudolf Bultmanns, haben „Religion” ähnlich kritisch gesehen und ebenso negativ beurteilt wie er. Für alle drei und, so scheint es, auch für Jesus steht „Religion” im Gegensatz zum Glauben. Warum besteht da ein Gegensatz? Sind Glaube und Religion nicht ein und dasselbe?

Religion „hat” man, sie ist etwas Oberflächliches, wie eine Meinung oder Ansicht - die „hat” man auch. Vorlieben hat man, Interessen oder Abneigungen. Zu diesem Oberflächlichen gehört vieles von dem, was uns an der Religion wichtig ist - die Bibelübersetzung, die wir benutzen, die Bräuche und Traditionen, die wir pflegen, vom unverrückbaren Gottesdiensttermin Sonntag, 10:00 Uhr bis zu der Art, wie wir das Abendmahl feiern - mit dem uns lieb und wichtig gewordenen gemeinsamen Kelch.

Glauben dagegen kann man nicht „haben”. Er fliegt einem zu, überkommt eine, wie die Liebe. Der Glaube forscht in der Schrift, weil er verstehen will, was er glaubt, weil er wissen will, was Gott zu sagen hat - zu mir und meinem Leben, zu der Situation, in der sich die Welt befindet. Der Glaube weiß nicht, was ihn dabei erwartet. Er kann es nicht wissen, auch wenn er die betreffende Bibelstelle 1.000 mal berührt hat. Weil es nicht der Glaubende ist, der liest, sondern weil die Bibel zum Glaubenden spricht - und diesmal hört der Glaubende vielleicht zum ersten Mal, was sie ihm zu sagen hat.

Darum kann Jesus sagen: „Hättet ihr Mose geglaubt, hättet ihr mir geglaubt.” Seine Gegner, unterstellt Jesus, lesen in den Mosebüchern, um zu finden, was sie schon kennen. Das ist nicht Glaube, sondern Religion. Mose zu glauben würde bedeuten, zu lesen, als stünde Mose selbst einem gegenüber - Mose, der mit Gott wie mit einem Freund redete und dessen Gesicht von seinen Begegnungen mit Gott so glänzte, dass die Israeliten es nicht ertragen konnten. Also nicht der Kumpel Mose, sondern Mose, die Autorität, der Fremde - und manchmal auch Befremdliche, ganz Andere.

Aber wie liest man so in der Bibel? Wie glaubt man, wenn der Glaube doch ein Zu-Fall ist, ein Geschenk, das einem zugefallen ist? Indem man alle Sicherheiten, alles vermeintliche Wissen, alle Religion aufgibt und sich allein auf Gottes Zusage verlässt. Das ist ein Drahtseilakt ohne sichtbares Netz, ohne spürbares Halteseil, in dem Vertrauen darauf, dass da doch ein Netz und ein Seil sind und dass man nicht fallen wird, weil Gott eine:n hält.

Jesus verwendet das Beispiel der Ehre, um diesen Verzicht auf alle Sicherheiten zu beschreiben. Jeder Mensch braucht Ehre, das heißt: Anerkennung. Sie ist lebenswichtig, weil sie Sicherheit gibt im Miteinander einer Gruppe, einer Gemeinde, einer Gesellschaft. Wer anerkannt ist, gehört dazu, darf mitreden, wird gesehen und gehört. Wer solche Aberkennung erfährt, fühlt sich sicher. Traut sich was, hat Lebensmut und Lebensfreude. Darum treten unsichere Menschen - pubertierende Jugendliche, Menschen mit wenig Selbstvertrauen - immern in Rudeln auf: Sie fühlen sich stark, wenn sie sich gegenseitig Anerkennung verschaffen. Solche Rudel sind aber nicht in der Lage, etwas ihnen Fremdes wirklich zu sehen. Im Gegenteil: Das Fremde, das Andere verunsichert, darum muss es bekämpft werden.

Auch wir ziehen die Sicherheit der Gruppe, der Gemeinde, der Religion einer ungesicherten Existenz vor. Darum muss der Glaube, wenn er Gott, dem ganz Anderen, begegnen will, alle vermeintliche Sicherheit fahren lassen. Auch die, die man sich mühsam in der Praxis seines Glaubens erarbeitet hat. Erst, wenn man nicht mehr auf solche oberflächlichen Sicherheiten vertraut, sondern alles auf eine Karte setzt: auf Gott, erst dann kann man Gott wirklich begegnen, und das heißt: glauben.

„Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion” Es fällt mir schwer, Rudolf Bultmann in seiner Ablehnung der Religion zuzustimmen. Ich feiere gern am Sonntag um 10:00 Uhr Gottesdienst, als Erinnerung an und Ausblick auf die Auferstehung. Und kann auch an einem Samstag Abend oder an irgendeinem Wochentag Gottesdienst feiern. Ich feiere gern das Abendmahl mit dem gemeinsamen Kelch, weil der Kelch das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft mit Christus und aller Gläubigen untereinander ist, und schließe freudig jeden und jede mit ein, die lieber aus dem Einzelkelch trinkt.

Aber vieles spricht dafür, sich Jesu Warnung zu Herzen zu nehmen: Weil man seine Religion praktiziert, ist man nicht automatisch im Besitz des Heils. Nicht, weil man sich das Heil verdienen könnte oder müsste. Sondern weil man sich darüber irren kann, woher das Heil kommt: Nicht aus dem Beharren auf Traditionen, sondern von Christus selbst; nicht aus der Zugehörigkeit zu den richtigen Leuten, sondern weil wir Gott gehören. Darum ist es wichtig, sich immer wieder mal zu fragen: Glaubst du noch - oder hast du schon Religion?

Sonntag, 15. Juni 2025

es gut meinen

Predigt am Sonntag Trinitatis, 15. Juni 2025, über 2.Kor 13,11-13

Zuguterletzt, liebe Geschwister, seid fröhlich, lasst euch zurechtbringen, lasst euch ermahnen, seid einträchtig, haltet Frieden, dann wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen. Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Kollege von mir regte sich jedes Mal, wenn man ihm „alles Gute” wünschte, furchtbar auf: Alles Gute, das sei völlig übertrieben; außerdem wolle er alles Gute gar nicht haben - was bliebe dann für die anderen übrig? Das klingt spitzfindig und besserwisserisch - aber so war mein Kollege nicht. Er ärgerte sich darüber, wenn jemand Floskeln benutzte.

Mir hat das sehr imponiert. Floskeln gehören zu unserem Alltag - das höfliche Bitte-Danke-Gern-geschehen, die immer gleichen Wünsche: Glück und Gesundheit zum Geburtstag, oder eben der Wunsch „alles Gute”, der meinen Kollegen so aufregte. Ich fragte mich, wie ich es erreichen könnte, dass mein Gegenüber merkt, dass ich tatsächlich meine, was ich ihr oder ihm wünsche, und es nicht bloß so dahinsage.

Was soll man stattdessen wünschen? Tatsächlich wünscht man sich zum Geburtstag am meisten Gesundheit - jedenfalls, wenn man älter ist. Und so gut kennt man die anderen nicht, dass man wüsste, welche besonderen Wünsche sie noch haben könnten. In meiner Not begann ich, lieber gar nichts zu wünschen, um bloß keine Floskel zu verwenden. Aber das war auch nicht besser. Denn jetzt war mein Gegenüber enttäuscht, manche waren sogar beleidigt - und das zu recht: Wenn man keine guten Worte für die andere, den anderen hat, muss sie, muss er ja denken, man hätte nichts für ihn übrig.

„Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen” ist auch so eine Floskel. Besser gesagt: eine formelhafte Redewendung, die Paulus am Schluss seiner Briefe benutzt.

Jeder seiner Briefe endet mit so einer Formulierung. Da kann man sich mit meinem eifernden Kollegen schon fragen, wie ernst Paulus meint, was er da schreibt. Oder ob das einfach so eine Floskel ist, mit der man einen Brief abschließt. So, wie wir „Mit freundlichen Grüßen” auch dann schreiben, wenn unser Brief nicht freundlich ist oder wir für den Adressaten keine Freundlichkeit empfinden.

Aber wie sollte Paulus seine, wie sollten wir unsere Briefe sonst beenden? Jedesmal anders, je nach Absicht und Adressat? Mal freundlich, mal verbindlich, mal zornig? Würde uns jedes Mal etwas Originelles einfallen? Würden wir uns überhaupt diese Mühe machen wollen, wenn wir z.B. einen Geschäftsbrief schreiben müssten?

Eine Floskel wie „Mit freundlichen Grüßen” hat eine Funktion, hier: das Ende des Briefes anzuzeigen. Andere Floskeln benutzt man, um sein Beileid zu bekunden oder zum Geburtstag zu gratulieren. Das funktioniert ganz gut - kein Grund, daran etwas zu ändern. So eine Floskel tut aber noch mehr: Sie transportiert ein positives Gefühl.

Wenn wir jemandem „alles Gute” wünschen, denken wir normalerweise nicht an alles mögliche Gute, und das wollen wir unserem Gegenüber auch nicht aufzählen. Sondern wir wünschen, dass es ihr oder ihm gut gehen möge - gerade, weil wir wissen, dass es einem nicht immer gut geht. Und so ist unser guter Wunsch nicht nur eine weitere Worthülse auf dem Stapel der Floskeln und Phrasen, die andere bereits bei der betreffenden Person abgeladen haben. Sie ist auch eine Art Gutschein.

Ein Gutschein wird gern verschenkt, wenn man keine Zeit oder kein Geld für ein „richtiges” Geschenk hatte. Oder nicht wusste, was man schenken soll. Kinder basteln ihren Eltern oft Gutscheine: Sie möchten ihnen etwas Besonderes schenken und wissen, dafür reicht ihr Taschengeld nicht aus.

Also verpflichten sie sich per Gutschein zu Tätigkeiten, die ihren Eltern eine Freude machen, wie Rasen mähen, Müll rausbringen oder die Spülmaschine ausräumen. Der Gutschein ist sozusagen die Floskel unter den Geschenken; man zeigt damit, dass man den anderen gern hat und ihr, ihm gern ein besonderes Geschenk gemacht hätte.

Wenn man nun zum Geburtstag Glück, Gesundheit oder „alles Gute” wünscht, ist das auch ein Gutschein. Natürlich käme niemand auf die Idee, solche Wünsche einzufordern: „Du hast mir Gesundheit gewünscht. Jetzt, wo ich krank bin, hätte ich die gern von dir.” Wir können unsere guten Wünsche nicht erfüllen. Trotzdem meinen wir in der Regel, was wir wünschen. Wir meinen es gut. Und wären - prinzipiell - dazu bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten. Dieses „Prinzipiell”, das ist unser guter Wille, den wir durch die Floskel zum Ausdruck bringen.

Unser guter Wille ist ein Wille zum Guten. Wir sind bereit, Gutes zu tun, wir meinen es gut - auch mit dem oder der, der wir Gutes wünschen. Und wir tun das Gute - im Rahmen unserer Möglichkeiten, und wenn unser innerer Schweinehund uns lässt.

Darum sind die Floskeln in unserem Alltag so wichtig. Und darum sind sie mehr als Floskeln: Weil wir uns damit gegenseitig unseres guten Willens versichern.

Und was macht Paulus, wenn er „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen” wünscht? Er sagt uns damit, dass Gott es gut mit uns meint. Das klingt jetzt vielleicht wie ein Allgemeinplatz. Doch es gibt Momente im Leben, da kann man das nicht glauben - weil man das Gefühl hat, Gott habe eine:n im Stich gelassen oder sei jedenfalls sehr, sehr weit weg.

Andere können gar nicht hören, dass Gott es gut mit uns meint. Sie sind der Meinung, sie hätten das Gute nicht verdient. Ausgerechnet sie unter allen Menschen, für die Christus gestorben ist, seien so verderbt und verloren, dass sein Tod sie nicht retten könne.

Jemand Außenstehendes bemerkt sofort, dass dieser Gedanke nicht stimmt. Aber wer in sich selbst gefangen ist, kann eine solche Außenperspektive nicht wahrnehmen. Und deshalb auch nicht erkennen, dass er, dass sie sich nicht vom Heil ausschließen muss - ja, sich davon gar nicht ausschließen kann.

Paulus’ floskelhafter Wunsch gilt nicht nur für solche Extremfälle. Wir alle müssen es immer wieder zugesprochen bekommen, dass Christus auch für uns gestorben ist, dass Gott auch uns liebt und dass der Heilige Geist auch uns in die Gemeinschaft mit Gott und in die Gemeinde beruft. Das, was Paulus seiner Gemeinde wünscht, ist das Fundament einer christlichen Existenz; die Grundlage, auf der alles andere aufbaut. Und es gilt immer, unter allen Umständen.

Im 2.Korintherbrief geht Paulus mit seiner Gemeinde hart ins Gericht. Er kritisiert sie und droht ihnen bei seinem nächsten Besuch ein Donnerwetter an. Sein Wunsch am Schluss des Briefes fasst seine durchaus berechtigte Kritik in den Rahmen der Gnade Christi, der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes. So sehr Paulus auch schimpft, so dringend sich die Korinther ändern müssen: Ihr christliches Fundament spricht er den Korinthern nicht ab. Sie sind trotz allem gerechtfertigt, sie sind trotz allem Gottes geliebte Kinder, und trotz allem gehören sie zur Gemeinschaft aller Christen.

Dieser Grund-Satz, den Paulus aufstellt, prägt unser Miteinander. Uns allen ist, unabhängig davon, wer wir sind und was wir tun, die Gnade zugesprochen, die Christus uns durch seinen Tod vermittelt hat. Uns alle liebt Gott über alle Maßen als seine Kinder. Und wir alle gehören dazu - gehören zur Gemeinde und zur Kirche, niemand kann uns davon ausschließen.

Auf dieser Grundlage sehen wir im anderen Menschen immer die Schwester und den Bruder. Bei aller Kritik, bei allen Unterschieden, bei allem Widerspruch bleiben wir Geschwister. Das ist unsere christliche Streitkultur: Wir gehen unter der Voraussetzung miteinander um, dass die andere, der andere ebenso gerechtfertigt, geliebt und zugehörig ist wie wir. Mit dieser Streitkultur sind wir das Salz der Erde, ein Vorbild im Umgang miteinander für unsere Gesellschaft und für die ganze Welt.

Wünschen Sie also bitte weiterhin „alles Gute” - und meinen Sie es. Unterschreiben Sie „mit freundlichen Grüßen” - und denken Sie daran, dass auch dieser Adressat, über den Sie sich vielleicht gerade ärgern, Freundlichkeit verdient hat. Wünschen Sie sich zum Geburtstag Glück und Gesundheit - und sehen Sie ab und zu nach, ob es dem Menschen, dem Sie das gewünscht haben, auch tatsächlich gut geht.

Die Floskeln sind mehr als Floskeln, sind Worte, die von unserem guten Willen zeugen, nur, wenn sie auch für uns mehr sind als Floskeln: Wenn wir sie so meinen.

Dass Gott meint, was Paulus uns zusagt, darauf können wir uns verlassen. Denn Jesus ist im Vertrauen auf Gottes Zusage bis in den Tod am Kreuz gegangen, und Gott hat ihn nicht im Stich gelassen.

Versuchen wir, darauf zu vertrauen, dass der dreieinige Gott uns seine Vergebung, seine Liebe und seine Gemeinschaft schenkt. Versuchen wir, uns vom Wunsch des Paulus an seine Gemeinde in Korinth ansprechen und gemeint sein zu lassen. Dann werden wir nicht vergessen, es wirklich zu meinen, wenn wir einander „alles Gute” wünschen und dadurch Gottes Güte in der Welt ausbreiten.

Sonntag, 8. Juni 2025

Geistesgegenwart

Predigt über Johannes 14, 22-27 am Pfingstsonntag, 8.6.2025

Liebe Schwestern und Brüder,

aus den „Abschiedsreden Jesu“ stammt das Evangelium, der heutige Predigttext. Jesus spricht mit seinen Jüngern kurz vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane und nimmt von ihnen Abschied. Ihm bleibt nur noch wenig Zeit, und es gibt noch so viel zu sagen. Seine Zeit ist vorüber; er kann nicht mehr ihr Tröster sein. Ein anderer Tröster wird kommen, der für immer bleiben wird.

Anders als wir, die wir beim Abschiednehmen oft keine Worte finden, kauft Jesus die Zeit aus, die ihm noch bleibt: Gibt Antwort auf die Fragen seiner Jünger, fasst seine Botschaft zusammen, spricht ein Gebet.

Mit den Fragen der Jünger beginnt es. Fragen, die von Zweifel erfüllt sind. Fragen, die manchmal auch unsere Fragen sind: Wie können wir sicher sein, dass du tatsächlich Gottes Sohn bist, der Messias, der uns und der Welt den Frieden bringt?

I

Vier Jünger stellen jeweils eine Frage. Vier Fragen, die in das Herz des Geheimnisses führen, das der Glaube ist. „Wo gehst du hin?“, die erste Frage. Petrus stellt sie. Jesus antwortet: „Dahin, wo du mir nicht folgen kannst. Denn dazu müsstest du sterben.“

Das Ziel des Glaubens: Bei Gott sein, das Ende aller Zweifel und Fragen. Man erreicht es nicht im Leben, sondern erst nach dem Tod. Unserem Wunsch, Gott möchte sich uns zeigen, möchte erwei­sen, dass es ihn wirklich gibt, steht der Wunsch nach Autonomie entgegen: Wenn wir eins wären mit Gott, wäre sein Wille unser Wille; wären wir nicht mehr wir selbst. Es gäbe für uns nichts mehr zu entscheiden. Es gäbe keinen Irrtum mehr - und auch nicht die Freiheit, uns gegen das Gute, uns gegen Gott zu entscheiden.

„Welcher Weg führt zu Gott?“, stellt Thomas, der ungläubige Thomas, die zweite Frage. „Ich bin der Weg“, antwortet Jesus. „Wenn ihr wisst, wer ich bin, werdet ihr auch Gott erkennen.“

Auf dem Weg zu Gott nehmen Menschen vieles auf sich: Halten Vorschriften ein, folgen Bräuchen und Traditionen, üben Verzicht, ziehen sich aus der Welt in die Einsamkeit zurück. Von all dem spricht Jesus nicht, das alles ist nicht nötig. Nur eines betont er: „Ich bin der Weg. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

Wollen wir zu Gott vordringen, führt an Jesus, dem Sohn Gottes, kein Weg vorbei. „Jesus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, lautet die erste These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934. Es gibt für uns Christinnen und Christen keinen anderen Weg zu Gott. Wir kennen Gott nur durch das Leben des Menschen Jesus.

„Wie kann Gott sich in einem Menschen offenbaren?“, das ist die dritte Frage, die Philippus stellt. Das Göttliche stellen wir uns gewaltig vor, in jeder Beziehung größer und mächtiger als wir. Wie kann es sein, dass wir im Menschen Jesus dem allmächtigen Gott begegnen?

Jesus antwortet Philippus: „Du erkennst Gott nicht in mir, weil du dir Gott anders vorstellst, als er ist.“ Unsere Bilder, die wir uns von Gott machen, die uns gelehrt, uns anerzogen wurden, die wir aus der Tradition der Kirche übernahmen, diese Bilder stehen uns im Weg, wenn wir Gott suchen. Dass ein schwacher Mensch, Jesus, Gott verkörpert, über den andere lästerten, als er am Kreuz starb – das zu glauben fällt schwer.

Der einzige „Beweis“, den Jesus uns über seine Worte hinaus an­bietet, sind seine Taten: Dass er Blinde sehen machte und Lahme gehen, dass er sich Kranken, Armen, Ausgestoßenen zuwandte – all das spricht dafür, dass Jesus Gottes Sohn ist. Denn die hebräische Bibel beschreibt Gott als den, der auf der Seite der Armen, Schwachen und Rechtlosen steht und für sie eintritt.

II

Auf dem Weg der Einwände gegen Jesus, auf dem Weg des Zwei­fels kommt die vierte, die gewichtigste Frage. Judas stellt sie, der Jünger mit dem gleichen Vornamen wie der, der Jesus verriet. Es ist die Frage, die die Kritiker des Christentums stellen, und auch die Christen selbst:

Warum hat von seinen Zeitgenossen niemand bemerkt, dass Jesus Gottes Sohn ist – außer seine Jünger? Wenn Gott in unsere Welt einbricht: müsste das nicht zu spüren sein, müsste das nicht gewaltige Wellen schlagen? Jesus antwortet auf die Frage, indem er erklärt: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten“.

Auf den ersten Blick ist dieser Satz keine Antwort auf die Frage. Man muss einen kleinen Umweg gehen, um zu verstehen, dass er es doch ist.

„Was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?” Judas befindet sich Jesus gegenüber, als er ihm diese Frage stellt. Er befindet sich in der Gegenwart Jesu. Judas fragt, warum nicht alle Menschen diese Gegenwart erleben können, die er gerade erfährt. Judas fragt nicht nur für die Welt; er fragt auch für uns: Für die Gemeinde, die sich nach Jesu Auferstehung gebildet hat.

III 

„Wer mich liebt, wird mein Wort halten“, sagt Jesus. Die Liebe, von der Jesus spricht, ist etwas anderes als das Verliebtsein in einen ande­ren Menschen. Und hat doch viel damit gemein.

Dass Menschen sich ineinander verlieben, dass der Funke über­springt, kann man nicht „machen“. Es geschieht einfach - oft auf eine Weise, die zeigt, wie machtlos wir gegen die Macht der Liebe sind. Man verliebt sich in jemanden, die, der so gar nicht zu dem Bild passt, das man sich von seiner Traumfrau, seinem Traum­mann gemacht hat – sondern ganz anders, nämlich: viel wunder­barer ist.

Oder es geschieht, dass man sich in einen Menschen verliebt, obwohl der schon an einen anderen Menschen gebunden ist, oder obwohl man selbst gebunden ist. Gegen alle Vernunft geschieht das, und man ist machtlos gegenüber dem, was da mit einem geschieht.

Mit der gleichen Macht bemächtigt sich Gott eines Menschen. Dass wir Jesus lieben – dass er uns verzaubert, dass uns der Weg, den er ging, einleuchtet und sein Wort uns ergreift – das „geschieht“ mit uns. Bei den Jüngern war es Jesus selbst, die Begegnung mit ihm, die sie verzauberte. Und bei uns? „Der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Es ist Gottes Geist, der uns von Jesus überzeugt. Gottes Geist ist da, wo Men­schen von Jesus verzaubert werden: Er verzaubert sie. Er ist da, wo Menschen von Jesu Worten ergriffen werden: Er ergreift sie. Der Heilige Geist war schon oft in uns und in unserem Leben am Werk: Wir haben es nicht gespürt, aber trotzdem war er da.

IV

Die Liebe zu Jesus hat viel mit der Liebe gemeinsam, die uns Menschen verbindet: Kinder mit ihren Eltern, Liebende miteinander. Auch in dem Missverständnis, dass die Liebste, der Liebste einem „gehört”, dass man ihn besitzt und ein Anrecht auf ihn hat.

Kinder wachsen heran, werden immer selbständiger. Am letzten Sonntag haben wir hier im Dom Konfirmation gefeiert - ein erster Schritt der Kinder in ein selbst bestimmtes, erwachsenes Leben. Wenn es gut ging, haben diese Kinder von ihren Eltern viel Liebe erfahren. Liebe, die sie in sich tragen und die ihnen hilft, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Denn ihre Eltern können und dürfen sie nicht mitnehmen, und die Eltern können und dürfen ihre Kinder nicht behalten - trotzdem sind und bleiben sie durch die Liebe verbunden.

Ebenso zwei, die sich lieben: Bei aller Liebe sind und bleiben sie zwei Einzelne, die alles teilen, viel gemeinsam haben - und dennoch auch unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Wünsche und Sehnsüchte haben. Die Liebe lässt der Partnerin, dem Partner den Raum, den er für sich braucht.

So ist es auch mit der Liebe zu Jesus: Jesus ist nicht zu haben und nicht zu halten. Das, woran man sich halten kann, ist sein Wort. Das Liebesverhältnis zu Jesus ist ein Glaubensverhältnis. Damit aus den Jüngern Jesu die Gemeinde werden kann, muss Jesus weggehen und der Tröster kommen, muss die Gegenwart Jesu eine Geistesgegenwart werden.

V

Jesus hat Abschied genommen und ist fortgegangen. Er lässt uns nicht allein zurück. Gottes Geist ist unter uns und wirkt in uns: er ergreift uns und macht uns ergriffen von Jesu Worten. Er hält uns auf seinem Weg und in seiner Liebe. Er zeigt uns Gott, wie er wirklich ist, wie sehr er uns liebt. Er hält uns den Spiegel vor, indem er uns an alles erinnert, was Jesus gelehrt hat, und nicht nur an das, was wir gern hören. Und er schenkt uns die Freiheit, Jesu Worte auf unsere Weise mit Leben zu füllen: Als erwachsene Christinnen und Christen, die selber für ihren Glauben einstehen können.

Der Abschied gehört zu unserem Christsein. Jedes Jahr an Himmelfahrt und Pfingsten werden wir daran erinnert, dass Jesus Abschied nehmen musste, damit wir seine Gemeinde werden können, die aus seiner Liebe, seinem Wort und seinem Frieden lebt. Jesus verabschiedet sich, damit das Leben einen neuen, geisterfüllten Anfang nehmen kann. Der Heilige Geist lehrt uns, was wirkliches Leben ist, wofür es sich lohnt zu leben und was unser einziger Trost ist – im Leben und im Sterben.