Predigt über Johannes 14, 22-27 am Pfingstsonntag, 8.6.2025
Liebe Schwestern und Brüder,
aus den „Abschiedsreden Jesu“ stammt das Evangelium, der heutige Predigttext. Jesus spricht mit seinen Jüngern kurz vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane und nimmt von ihnen Abschied. Ihm bleibt nur noch wenig Zeit, und es gibt noch so viel zu sagen. Seine Zeit ist vorüber; er kann nicht mehr ihr Tröster sein. Ein anderer Tröster wird kommen, der für immer bleiben wird.
Anders als wir, die wir beim Abschiednehmen oft keine Worte finden, kauft Jesus die Zeit aus, die ihm noch bleibt: Gibt Antwort auf die Fragen seiner Jünger, fasst seine Botschaft zusammen, spricht ein Gebet.
Mit den Fragen der Jünger beginnt es. Fragen, die von Zweifel erfüllt sind. Fragen, die manchmal auch unsere Fragen sind: Wie können wir sicher sein, dass du tatsächlich Gottes Sohn bist, der Messias, der uns und der Welt den Frieden bringt?
I
Vier Jünger stellen jeweils eine Frage. Vier Fragen, die in das Herz des Geheimnisses führen, das der Glaube ist. „Wo gehst du hin?“, die erste Frage. Petrus stellt sie. Jesus antwortet: „Dahin, wo du mir nicht folgen kannst. Denn dazu müsstest du sterben.“
Das Ziel des Glaubens: Bei Gott sein, das Ende aller Zweifel und Fragen. Man erreicht es nicht im Leben, sondern erst nach dem Tod. Unserem Wunsch, Gott möchte sich uns zeigen, möchte erweisen, dass es ihn wirklich gibt, steht der Wunsch nach Autonomie entgegen: Wenn wir eins wären mit Gott, wäre sein Wille unser Wille; wären wir nicht mehr wir selbst. Es gäbe für uns nichts mehr zu entscheiden. Es gäbe keinen Irrtum mehr - und auch nicht die Freiheit, uns gegen das Gute, uns gegen Gott zu entscheiden.
„Welcher Weg führt zu Gott?“, stellt Thomas, der ungläubige Thomas, die zweite Frage. „Ich bin der Weg“, antwortet Jesus. „Wenn ihr wisst, wer ich bin, werdet ihr auch Gott erkennen.“
Auf dem Weg zu Gott nehmen Menschen vieles auf sich: Halten Vorschriften ein, folgen Bräuchen und Traditionen, üben Verzicht, ziehen sich aus der Welt in die Einsamkeit zurück. Von all dem spricht Jesus nicht, das alles ist nicht nötig. Nur eines betont er: „Ich bin der Weg. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“
Wollen wir zu Gott vordringen, führt an Jesus, dem Sohn Gottes, kein Weg vorbei. „Jesus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, lautet die erste These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934. Es gibt für uns Christinnen und Christen keinen anderen Weg zu Gott. Wir kennen Gott nur durch das Leben des Menschen Jesus.
„Wie kann Gott sich in einem Menschen offenbaren?“, das ist die dritte Frage, die Philippus stellt. Das Göttliche stellen wir uns gewaltig vor, in jeder Beziehung größer und mächtiger als wir. Wie kann es sein, dass wir im Menschen Jesus dem allmächtigen Gott begegnen?
Jesus antwortet Philippus: „Du erkennst Gott nicht in mir, weil du dir Gott anders vorstellst, als er ist.“ Unsere Bilder, die wir uns von Gott machen, die uns gelehrt, uns anerzogen wurden, die wir aus der Tradition der Kirche übernahmen, diese Bilder stehen uns im Weg, wenn wir Gott suchen. Dass ein schwacher Mensch, Jesus, Gott verkörpert, über den andere lästerten, als er am Kreuz starb – das zu glauben fällt schwer.
Der einzige „Beweis“, den Jesus uns über seine Worte hinaus anbietet, sind seine Taten: Dass er Blinde sehen machte und Lahme gehen, dass er sich Kranken, Armen, Ausgestoßenen zuwandte – all das spricht dafür, dass Jesus Gottes Sohn ist. Denn die hebräische Bibel beschreibt Gott als den, der auf der Seite der Armen, Schwachen und Rechtlosen steht und für sie eintritt.
II
Auf dem Weg der Einwände gegen Jesus, auf dem Weg des Zweifels kommt die vierte, die gewichtigste Frage. Judas stellt sie, der Jünger mit dem gleichen Vornamen wie der, der Jesus verriet. Es ist die Frage, die die Kritiker des Christentums stellen, und auch die Christen selbst:
Warum hat von seinen Zeitgenossen niemand bemerkt, dass Jesus Gottes Sohn ist – außer seine Jünger? Wenn Gott in unsere Welt einbricht: müsste das nicht zu spüren sein, müsste das nicht gewaltige Wellen schlagen? Jesus antwortet auf die Frage, indem er erklärt: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten“.
Auf den ersten Blick ist dieser Satz keine Antwort auf die Frage. Man muss einen kleinen Umweg gehen, um zu verstehen, dass er es doch ist.
„Was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?” Judas befindet sich Jesus gegenüber, als er ihm diese Frage stellt. Er befindet sich in der Gegenwart Jesu. Judas fragt, warum nicht alle Menschen diese Gegenwart erleben können, die er gerade erfährt. Judas fragt nicht nur für die Welt; er fragt auch für uns: Für die Gemeinde, die sich nach Jesu Auferstehung gebildet hat.
III
„Wer mich liebt, wird mein Wort halten“, sagt Jesus. Die Liebe, von der Jesus spricht, ist etwas anderes als das Verliebtsein in einen anderen Menschen. Und hat doch viel damit gemein.
Dass Menschen sich ineinander verlieben, dass der Funke überspringt, kann man nicht „machen“. Es geschieht einfach - oft auf eine Weise, die zeigt, wie machtlos wir gegen die Macht der Liebe sind. Man verliebt sich in jemanden, die, der so gar nicht zu dem Bild passt, das man sich von seiner Traumfrau, seinem Traummann gemacht hat – sondern ganz anders, nämlich: viel wunderbarer ist.
Oder es geschieht, dass man sich in einen Menschen verliebt, obwohl der schon an einen anderen Menschen gebunden ist, oder obwohl man selbst gebunden ist. Gegen alle Vernunft geschieht das, und man ist machtlos gegenüber dem, was da mit einem geschieht.
Mit der gleichen Macht bemächtigt sich Gott eines Menschen. Dass wir Jesus lieben – dass er uns verzaubert, dass uns der Weg, den er ging, einleuchtet und sein Wort uns ergreift – das „geschieht“ mit uns. Bei den Jüngern war es Jesus selbst, die Begegnung mit ihm, die sie verzauberte. Und bei uns? „Der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“
Es ist Gottes Geist, der uns von Jesus überzeugt. Gottes Geist ist da, wo Menschen von Jesus verzaubert werden: Er verzaubert sie. Er ist da, wo Menschen von Jesu Worten ergriffen werden: Er ergreift sie. Der Heilige Geist war schon oft in uns und in unserem Leben am Werk: Wir haben es nicht gespürt, aber trotzdem war er da.
IV
Die Liebe zu Jesus hat viel mit der Liebe gemeinsam, die uns Menschen verbindet: Kinder mit ihren Eltern, Liebende miteinander. Auch in dem Missverständnis, dass die Liebste, der Liebste einem „gehört”, dass man ihn besitzt und ein Anrecht auf ihn hat.
Kinder wachsen heran, werden immer selbständiger. Am letzten Sonntag haben wir hier im Dom Konfirmation gefeiert - ein erster Schritt der Kinder in ein selbst bestimmtes, erwachsenes Leben. Wenn es gut ging, haben diese Kinder von ihren Eltern viel Liebe erfahren. Liebe, die sie in sich tragen und die ihnen hilft, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Denn ihre Eltern können und dürfen sie nicht mitnehmen, und die Eltern können und dürfen ihre Kinder nicht behalten - trotzdem sind und bleiben sie durch die Liebe verbunden.
Ebenso zwei, die sich lieben: Bei aller Liebe sind und bleiben sie zwei Einzelne, die alles teilen, viel gemeinsam haben - und dennoch auch unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Wünsche und Sehnsüchte haben. Die Liebe lässt der Partnerin, dem Partner den Raum, den er für sich braucht.
So ist es auch mit der Liebe zu Jesus: Jesus ist nicht zu haben und nicht zu halten. Das, woran man sich halten kann, ist sein Wort. Das Liebesverhältnis zu Jesus ist ein Glaubensverhältnis. Damit aus den Jüngern Jesu die Gemeinde werden kann, muss Jesus weggehen und der Tröster kommen, muss die Gegenwart Jesu eine Geistesgegenwart werden.
V
Jesus hat Abschied genommen und ist fortgegangen. Er lässt uns nicht allein zurück. Gottes Geist ist unter uns und wirkt in uns: er ergreift uns und macht uns ergriffen von Jesu Worten. Er hält uns auf seinem Weg und in seiner Liebe. Er zeigt uns Gott, wie er wirklich ist, wie sehr er uns liebt. Er hält uns den Spiegel vor, indem er uns an alles erinnert, was Jesus gelehrt hat, und nicht nur an das, was wir gern hören. Und er schenkt uns die Freiheit, Jesu Worte auf unsere Weise mit Leben zu füllen: Als erwachsene Christinnen und Christen, die selber für ihren Glauben einstehen können.
Der Abschied gehört zu unserem Christsein. Jedes Jahr an Himmelfahrt und Pfingsten werden wir daran erinnert, dass Jesus Abschied nehmen musste, damit wir seine Gemeinde werden können, die aus seiner Liebe, seinem Wort und seinem Frieden lebt. Jesus verabschiedet sich, damit das Leben einen neuen, geisterfüllten Anfang nehmen kann. Der Heilige Geist lehrt uns, was wirkliches Leben ist, wofür es sich lohnt zu leben und was unser einziger Trost ist – im Leben und im Sterben.