Donnerstag, 9. Mai 2024

Zeuge sein

Predigt an Christi Himmelfahrt, 9. Mai 2024, über Acta 1,3-11


Liebe Schwestern und Brüder,


Lukas erzählt die Geschichte von der Himmelfahrt zweimal.

Beim ersten Mal beschließt sie sein Evangelium -

wir haben es vorhin gehört:

Der Schluss des Evangeliums beschreibt den letzten Moment,

den Jesus mit seinen Jüngern verbringt.


Denn obwohl er auferstanden ist,

obwohl er, der am Kreuz gestorben und begraben war, wieder lebt,

kann Jesus nicht bei seinen Jüngern bleiben.

Er kehrt zurück zu Gott, seinem Vater.


Der Himmel, der ihn aufnimmt,

ist nicht der blaue Himmel über uns.

Auch nicht das Weltall mit seinen abermilliarden Sternen.

Der Himmel, in den Jesus zurückkehrt,

ist die ganz andere Wirklichkeit Gottes.


Die andere Wirklichkeit Gottes hat keinen Raum und keine Zeit.

Sie kann eine Handbreit rechts oder links von uns sein.

Sie befindet sich mitten unter uns, und wir bemerken es nicht.

Sie übersteigt unsere Wirklichkeit.


Bevor Jesus den Schritt in diese andere Wirklichkeit tut,

in die seine Jünger ihm nicht folgen können,

spricht er zum letzten Mal mit seinen Jüngern.

Er nimmt Abschied.

Es ist kein Abschied für immer, denn sie werden ihn wiedersehen.

Dann wird Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit anbrechen.


Es ist auch kein Abschied wie bei einer Reise,

die unter Umständen sehr lange dauern kann,

bei der aber das Datum der Rückkehr fest steht.

Jesus geht auf unabsehbare Zeit

und niemand weiß, wann er wiederkommen wird.

Nicht einmal Jesus selbst.


Die ersten Christ:innen erwarteten noch,

dass sie seine Wiederkunft erleben würden.

Doch schon bei Paulus kann man nachlesen,

wie aus seiner Erwartung, Jesus würde bald kommen,

um das Reich Gottes auf Erden zu errichten,

die Einsicht erwächst, dass er es nicht mehr erleben wird.


Für Lukas, der eine Generation nach Paulus gelebt hat,

ist diese Einsicht schon Vergangenheit

und das Reich Gottes in weite Ferne gerückt.

Als er den Abschied Jesu schildert, ist Lukas klar:

Die Jünger müssen ohne ihn zurecht kommen.


I

Was sagt man beim Abschied?

Was gibt man Menschen mit,

wenn man sie ins Leben entlässt,

wie am Sonntag die Konfirmand:innen?


Was wurde Ihnen mitgegeben,

als Sie sich von Ihren Eltern verabschiedeten,

um Ihr eigenes Leben zu beginnen?

Was haben Sie Ihren Kindern mitgegeben,

als die von zuhause auszogen?


Im Moment des Abschieds kann man nicht mehr viel mitgeben -

dazu ist dieser Moment zu kurz.

Man hofft, dass man in der Zeit des Zusammenseins

genug getan, genug gegeben hat,

dass die Kinder von nun an gut allein zurechtkommen.


Man hat in diesem Moment auch keine Zeit zu überlegen,

was jetzt das wichtigste wäre,

das noch gesagt oder mitgegeben werden müsste.

Man gibt mit, was einem gerade einfällt:

mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge.


Jesus gibt seinen Jüngern nur eine einzige,

wichtige Sache mit auf den Weg:

Er lässt ihnen einen Schlüssel da.

Keinen Haus- oder Kirchenschlüssel,

keinen Schlüssel zu einer vergrabenen Schatztruhe.

Sondern den Schlüssel, der ihnen die Schrift aufschließt.


II

Schon einmal gab er zweien seiner Jünger diesen Schlüssel.

Als er ihnen auf dem Weg nach Emmaus begegnete,

auf dem sie ihn nicht erkannten,

schloss er ihnen die Schrift auf.

Da verstanden die beiden Jünger,

warum Christus leiden und sterben musste,

und dass er wieder auferstanden war.

In diesem Moment erkannten sie endlich, wer er war.


Der Schlüssel, der das Wort Gottes aufschließt,

macht die hebräische Bibel zu einer Quelle,

aus der die Jünger ihr Wissen über Jesus schöpfen.

Sie hatten ihn erlebt, hatten mit ihm gelebt;

sie hatten seine Predigten gehört und seine Taten gesehen.

Aber sie hatten ihn nicht verstanden.


Das Verständnis kommt jetzt.

Sie erkennen, dass der, von dem die Propheten reden:

der das geknickte Rohr nicht zerbricht

und den glimmenden Docht nicht auslöscht (Jes 42,3);

der um unserer Missetat willen verwundet

und um unserer Sünde willen zerschlagen wurde (Jes 53,5);

der nach drei Tagen auferstand,

wie Jona drei Tage im Bauch des Fisches war,

bevor der ihn wieder aufs feste Land ausspuckte:

dass das Jesus ist.


Mit diesem Schlüssel wird ihnen die ganze Bibel

zu einem Buch, das über Jesus erzählt;

das ihnen erklärt, wer er ist

und das die Lücken schließt, die sein Weggehen zurücklässt.


Nun wissen sie über Jesus bescheid

und können anderen erzählen, wer Jesus war.

Sie werden seine Zeugen.

Lukas wählt gerade dieses Wort „Zeugen”, weil die Jünger

mit ihren Predigten und ihrem Leben für das einstehen,

was Jesus gesagt und getan hat.


Sie erzählen nicht nur von ihm, sie bezeugen ihn.

Dadurch können Menschen,

die ihn zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt haben,

Jesus trotzdem noch kennen lernen,

wenn sie seinen Jüngern begegnen.


III

Das zweite Mal erzählt Lukas von der Himmelfahrt

am Anfang des zweiten Buches, das ihn als Autor nennt:

in der Apostelgeschichte.

Die Apostelgeschichte berichtet,

was nach der Himmelfahrt geschah:

Sie erzählt von Pfingsten

und von der Gründung der ersten Gemeinden.


Vor allem erzählt sie von einem Apostel,

der zu den ersten gehörte,

die Jesus zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt hatten:

von Paulus.


Paulus lernte die Jünger Jesu kennen,

die er vorher verfolgt hatte;

sie erzählten ihm von Jesus.

Aber wer Jesus war, und was Jesus für uns bedeutet,

das hatte sich Paulus selbst aus der hebräischen Bibel erschlossen,

die er sehr gut kannte.


Im Galaterbrief sagt er ausdrücklich,

dass er sein Evangelium nicht von einem Menschen gelernt habe,

sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi (Gal 1,12).

Er ist selbst darauf gekommen -

Christus zeigte sich ihm in der Schrift.


Auch Paulus erhielt den Schlüssel,

der ihm die Schrift aufschloss, von Jesus.

Aber er ging den Weg genau andersherum:

Den Jüngern half die Bibel,

ihre Erfahrungen mit Jesus zu deuten und zu verstehen.

Paulus, der keine Erfahrungen mit Jesus hatte,

erkannte durch die Bibel,

dass der Messias, an den er als Jude bereits glaubte,

der Mensch Jesus von Nazareth war,

dessen Anhänger er verfolgt hatte.


IV

Die Himmelfahrt am Ende des Evangeliums

erzählt von einem Abschied.

Die Himmelfahrt am Anfang der Apostelgeschichte

erzählt von einem Anfang:

der Gründung der ersten Gemeinden,

dem Beginn der Kirche.


Dieser Anfang wurde gemacht durch Menschen,

die zu Zeugen wurden.

Dabei kam es nicht darauf an,

dass sie Jesus persönlich gekannt hatten

oder besonders viele Details aus seinem Leben wussten.

Der wichtigste Zeuge für Lukas ist der Apostel Paulus,

der Jesus zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt hatte.


Lukas macht Paulus zum Helden seiner Geschichte

über die Gründung der Kirche.

Nicht die Jünger Jesu, die ihm doch viel näher gestanden hatten,

die mit ihm gesprochen, mit ihm gegessen, ihn berührt hatten

und von ihm berührt worden waren.


Um Zeuge zu sein, muss man nicht zum Inner Circle gehören.

Man muss kein besonderes Wissen haben,

nicht die wichtigen Leute kennen.

Zeuge wird man, wenn man den Schlüssel hat,

der die Schrift aufschließt.


Diesen Schlüssel haben wir alle.

Viele von uns haben ihn bereits erhalten,

als wir weder lesen noch schreiben,

ja, nicht einmal sprechen konnten:

bei unser Taufe als Kleinkinder.


Bei der Taufe wurde uns die Hand aufgelegt

und uns der Heilige Geist zugesprochen.

Die Kraft des Heiligen Geistes schließt uns die Schrift auf

und macht uns zu Zeug:innen.


Denn die Handauflegung gibt nicht nur den Segen Gottes weiter,

seinen Heiligen Geist.

Die Handauflegung ist auch ein Zeichen der Berufung.

Die Konfirmand:innen werden damit eingesegnet,

Kirchenvorsteher:innen oder Pastor:innen in ihr Amt eingeführt.

Die Handauflegung bei unserer Taufe

hat uns alle zu Zeug:innen berufen.


V

Auch durch unser Reden und Tun können Menschen erleben,

wer Jesus ist und vor allem: Wie Jesus ist.

Dazu müssen wir nicht ständig von Jesus erzählen,

müssen keine Bibelzitate im Mund führen.


Wir verkörpern Jesus, wenn wir so reden und handeln,

wie Jesus es uns gelehrt hat und sich von uns wünscht:

In Liebe zu Gott, zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen.


Wer versucht, in dieser dreifachen Liebe zu leben,

sich von dieser dreifachen Liebe leiten zu lassen,

wird anders handeln, anders reden,

anders leben und anders sein als die anderen.


Wird Nein! sagen, wenn andere zu etwas Ja sagen

und Ja, wenn andere zu einem Menschen Nein sagen.


Wird sich nicht von Hass regieren lassen,

sondern von Mitgefühl;

nicht von Neid, sondern von Verständnis.


Wird Respekt haben vor allen Menschen,

auch denen, die nicht einer Norm entsprechen,

auch den Fremden und befremdlichen.


´Und wird die Geschöpfe und die Schöpfung achten

und dadurch den Schöpfer ehren.


So werden wir zu Zeug:innen für Jesus.

So werden Menschen überzeugt,

gewonnen für die Sache Jesu.

So ist schon ein kleines Stück von Gottes Reich,

so ist der Himmel unter uns zu sehen,

und wir sind mitten drinnen.


Sonntag, 5. Mai 2024

Fürsprecher

Predigt am Sonntag Rogate, 5.5.2024, über 2.Mose 32,7-14:

Gott sprach zu Mose:

Auf, steige herab! Denn dein Volk,

das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast,

richtet Unheil an.

Schnell sind sie abgewichen von dem Weg,

den ich ihnen gebot.

Sie machten sich ein Jungstier-Gussbild

und beteten es an und opferten ihm und sprachen:

Das ist dein Gott, Israel,

der dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat.


Und Gott sprach zu Mose:

Ich kenne dieses Volk. Es ist wirklich hart-näckig!

Und nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrennt

und ich sie vertilge.

Danach will ich dich zu einem großen Volk machen.


Da besänftigte Mose den Zorn des Herrn, seines Gottes,

indem er sagte:

Herr, warum entbrennt dein Zorn gegen dein Volk,

das du aus dem Land Ägypten herausgeführt hast

mit großer Kraft und starkem Arm?

Warum soll Ägypten sagen:

Zu ihrem Unheil hat er sie herausgeführt,

um sie in den Bergen zu töten

und sie vom Antlitz der Erde zu vertilgen?

Wende dich doch von der Glut deines Zornes ab

und lass dich des Unheils für dein Volk gereuen.

Gedenke deiner Knechte Abraham, Isaak und Israel,

denen du bei dir selbst geschworen hast:

Ich will eure Nachkommen so zahlreich machen

wie die Sterne am Himmel.

Und dieses ganze Land, von dem ich sprach,

will ich euren Nachkommen geben,

und sie sollen es als Besitz erhalten für immer.

Da reute Gott das Unheil,

das er seinem Volk angedroht hatte.


Liebe Schwestern und Brüder,


manchmal muss man unfreiwillig mit anhören,

wie sich ein Paar streitet -

in der Schlange an der Kasse,

am Nachbartisch im Restaurant, oder im Bus.

Es ist unangenehm, Zeug:in eines solchen Streites zu werden.

Er erinnert an eigene Streitereien,

wie verletzend sie sein konnten,

und wie überflüssig sie letztlich waren.


Mit dem heutigen Predigttext

werden wir unfreiwillig Zeug:innen eines solchen Streites

zwischen Gott und Mose.

Gott sagt: Sieh mal, was dein Volk da treibt,

was ich ihm streng verboten habe!

Jetzt kann ich nicht anders, ich muss mich von ihm trennen.

Mose entgegnet respektvoll und doch sehr bestimmt:

Es ist dein Volk. Du hast es aus Ägypten befreit.

Was sollen denn die Leute denken,

wenn du dich jetzt von ihm trennst?

Und außerdem: Hast du ihm nicht etwas versprochen?


„Da reute Gott das Unheil,

das er seinem Volk angedroht hatte.”


I

So gehen unsere Streitereien selten aus,

dass die oder der, der den Streit anfing, am Ende Reue zeigt.

Wenn, dann kommt die Reue erst hinterher.

Sie kommt zu spät, um der anderen, dem anderen zu sagen:

So war das doch nicht gemeint!

Es ist dann schon etwas kaputt gegangen.

Es benötigt dann viel mehr Zeit und Kraft,

diesen Schaden zu heilen,

als nötig war, um ihn zu verursachen.


In der Beziehung Gottes zu seinem Volk

ist auch etwas kaputt gegangen.

Die Israeliten hatten die Beziehung aufgegeben.

Sie hatten das Warten aufgegeben.

Mose war auf den Gottesberg gestiegen,

um dort die Gebote zu empfangen.

Eine Wolke hatte ihn verschluckt;

seitdem hatte man nichts mehr von ihm

gehört oder gesehen.


Wie sollte es nun weitergehen?

Da sie ihren Anführer Mose offensichtlich verloren hatten,

forderten die Israeliten dessen Bruder Aaron auf,

ihnen einen Gott zu machen.

Der Gott des Mose hatte ja offenbar kein Interesse mehr an ihnen.

Aaron sammelte von den Israeliten das wertvollste,

das sie besaßen: ihre goldenen Ohrringe.

Er schmolz sie ein und goss sie in eine Form:

Das goldene Kalb.

Es wurde von den Israeliten sofort als Gott anerkannt und verehrt.


II

Dieses goldene Kalb verursacht eine Beziehungskrise

zwischen Gott und seinem Volk,

für das Mose stellvertretend als Fürsprecher eintritt.

Gott nimmt Mose als Anführer in die Verantwortung:

Sieh mal, was dein Volk da treibt!

Aber Mose zieht sich den Schuh nicht an,

den Gott ihm da zuschiebt:

Du hast es aus Ägypten befreit! Es ist dein Volk!, sagt er.


Mich erinnert das an die Reaktion von Eltern,

deren Kind etwas Dummes angestellt hat.

Da sagt eine zum anderen:

Dein Sohn hat mal wieder etwas ausgefressen!

Bei Hundebesitzern gibt es das auch:

Dein Hund muss mal wieder Gassi gehen!

Gemeint ist: Kümmere du dich darum.

Du bist dafür verantwortlich.


In ähnlicher Weise wird zwischen Gott und Mose

die Verantwortung für das Volk Israel hin- und hergeschoben.

Mose ist zwar sein Anführer,

aber mit dem goldenen Kalb will er nichts zu tun haben;

das war schließlich nicht seine Idee.


Die Beziehungskrise zwischen Gott und seinem Volk

endet beinahe tragisch.

Gott droht damit, endgültig Schluss zu machen:

„Lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrennt

und ich sie vertilge.”


III

„Lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrennt

und ich sie vertilge.”

Bei diesen Worten stockt einem der Atem.

Gott ist so wütend, dass er die Beziehung zu seinem Volk Israel,

in die er so viel investiert hat, einfach wegwerfen

und mit Mose noch einmal ganz von vorn beginnen will.

Gott wirft nicht nur die Beziehung weg.

Auch das Leben der Israeliten will er auslöschen.


Wer in einer Beziehung so schwer enttäuscht wurde,

steht kurz davor, alles hinzuwerfen.

Und wünscht wohl auch dem Partner, der Partnerin,

alles Übel der Welt, oder sogar den Tod an den Hals.

In unseren Beziehungen hat die Partnerin, der Partner,

der uns das angetan hat,

keinen Fürsprecher wie Mose, der einwendet:

Was sollen denn die Leute denken? und:

Erinnere dich daran, was du versprochen hast!


Fürsprache, das ist das Thema dieses Sonntags Rogate,

der dem Gebet gewidmet ist.

Gebet ist auch Fürbitte, Fürsprache für Menschen,

die keine Fürsprecher haben

oder sich nicht trauen,

weil ihre Beziehungen gestört oder zerbrochen sind.


Mose nimmt die Rolle des Fürsprechers an,

weil er als Anführer die Verantwortung für die Israeliten trägt.

Zu dieser Rolle gehört es,

Gott an seine Verantwortung zu erinnern:

Israel ist sein Volk, das Gott sich erwählt

und aus Ägypten befreit hat.

Diesem Volk will Gott mit seinen Geboten eine Zukunft geben,

die weiter reicht als die der anderen Völker.

Eine Zukunft, in die einmal

alle Menschen eingeschlossen sein werden.

Mit Gottes überbordendem Zorn

steht nicht nur die Zukunft seines Volkes,

es steht auch die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel.


IV

Die Geschichte ist zum Glück gut ausgegangen:

„Da reute Gott das Unheil,

das er seinem Volk angedroht hatte”,

auch wenn die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk

problematisch und krisenhaft blieb.

Die Geschichte ging gut aus,

weil Mose für die Israeliten Fürsprache einlegte.

Und weil Gott sich umstimmen ließ.


Gott lässt sich umstimmen,

indem Mose ihn auf seine Verantwortung anspricht:

Was sollen denn die Leute denken,

wenn du das Volk auslöscht,

das ihnen als Vorbild dienen soll?

Und was ist mit den Versprechen, die du gegeben hast?

Du hast sie nicht an Bedingungen geknüpft.

Sie gelten auch dann, wenn die Menschen nicht so sind,

wie du es dir von ihnen wünscht.


So wird die Geschichte vom goldenen Kalb

zum Trost für alle, deren Beziehung zu Gott

in eine Krise geraten ist.

Auf den ersten Blick ist diese Geschichte die einer Beziehungskrise.

Eine Geschichte von zerstörtem Vertrauen, gebrochenen Versprechen.

Aber weil Gott sich von Mose an seine Verantwortung erinnern lässt,

ist diese Geschichte eine Trostgeschichte.

Sie überzeugt uns davon,

dass Gott seine Beziehung zu uns niemals abbricht,

ganz gleich, was wir ausgefressen haben.

Sogar dann nicht, wenn es schlimme Fehler waren.

Selbst, wenn wir von uns aus die Beziehung zu Gott abbrechen

und goldenen Kälbern nachlaufen.

Gott vergisst nicht, was er uns versprochen hat.

Gott entlässt uns auch nicht aus der Verantwortung,

dass mit uns und durch uns

alle Menschen eine Zukunft haben sollen,

die Gottes Gebot zum Leitstern ihres Lebens erheben.


V

In unseren Beziehungen und Partnerschaften

hätten wir auch gern einen solchen Fürsprecher,

wie es Mose für das Volk Israel war.


Tatsächlich haben wir einen solchen Fürsprecher.

Er redet uns ins Gewissen,

wenn wir voller Zorn ausrasten;

wenn wir vergessen, was wir einmal versprachen,

oder wenn wir unsere Verantwortung nicht wahrnehmen wollen.

Es ist der Tröster, den Jesus seinen Jüngern angekündigt hat:

Der Heilige Geist.


In zwei Wochen, an Pfingsten, feiern wir,

dass er zu uns gekommen ist,

um immer bei uns zu bleiben.

Der Heilige Geist ist unser Fürsprecher bei Gott,

der für uns eintritt mit unaussprechlichem Seufzen.

Er ist auch Fürsprecher für die Menschen,

mit denen wir in einer Beziehung stehen.

Manchmal hören oder spüren wir sein Seufzen.


Der Heilige Geist erinnert uns daran,

dass wir zu Gottes Volk gehören.

Darauf können wir uns verlassen.

Darauf können wir bauen.

Darauf können wir vertrauen.

Dieses Vertrauen wird uns tragen,

durch, und über alle Krisen unseres Lebens hinweg.

Sonntag, 28. April 2024

ja, wenn das alle täten …

Predigt am Sonntag Kantate, 28.4.2024, über EG 369,7

Liebe Schwestern und Brüder,


die Grille hatte den ganzen Sommer hindurch gesungen.

Als der Winter kam, fand sie nichts mehr zu essen.

Sie klopfte bei der Ameise an,

ob sie ihr nicht etwas Brot leihen könne,

sie würde es im Sommer auch mit Zinsen zurück zahlen.

Die Ameise fragte:

„Was hast du den ganzen Sommer über getrieben?” -

„Ich habe Tag und Nacht alle durch mein Singen erfreut”,

antwortete die Grille.

„Gesungen hast du?”, sagte die Ameise, „dann tanze jetzt!”


In dieser Fabel findet so mancher Künstler,

manche Künstlerin ihr Schicksal gespiegelt.

Nicht nur, wie prekär die Lage einer Künstlerin,

eines Künstlers sein kann.

Auch, wie schroff und zuweilen herzlos

die Gesellschaft auf eine Künstlerexistenz reagiert:

„Gesungen hast du? Dann tanze jetzt!”


Nicht nur Künstler:innen können in diese Lage geraten.

Auch wer die Worte des Liedes von Georg Neumark

zu wörtlich nimmt, besonders die letzte Strophe:


„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,

verricht das Deine nur getreu

und trau des Himmels reichem Segen,

so wird er bei dir werden neu.

Denn welcher seine Zuversicht

auf Gott setzt, den verlässt er nicht.”


Dabei beweist man doch gerade dadurch sein Gottvertrauen,

dass man singt, betet und auf Gottes Wegen geht

und dabei seine Zuversicht auf Gott setzt.

Damit gibt Georg Neumark eine Stelle der Bergpredigt wieder.

Jesus fordert darin auf (Matthäus 6,19-34):


„Sorgt euch nicht um euer Leben,

was ihr essen und trinken werdet;

auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.

Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung

und der Leib mehr als die Kleidung?

Seht die Vögel unter dem Himmel an:

Sie säen nicht, sie ernten nicht,

sie sammeln nicht in die Scheunen;

und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.

Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?”


I

Es wäre ein Zeichen von Gottvertrauen,

es wäre aufrichtiger Glaube,

wenn man Jesus’ Aufforderung folgen würde:


„Sorgt nicht für morgen,

denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.”


Aber leider funktioniert das nicht.

Wer sorglos in den Tag hinein lebt,

findet sich schneller als gedacht

als Bittsteller:in vor anderer Leute Tür wieder.

Da ist man angewiesen auf das Mitleid

und die Großzügigkeit anderer.

Doch meist trifft man nur Ameisen

und hat zum Schaden auch noch den Spott:

„Gesungen hast du? Dann tanze jetzt!”


Ameisenfleiß gilt viel in unserer Gesellschaft.

In der Emsigkeit ist die Emse, die Ameise, enthalten.

Diese Emsigkeit haben wir auch Immanuel Kant zu verdanken,

dessen 300. Geburtstag in der vergangenen Woche begangen wurde.

Sein ethisches Prinzip des kategorischen Imperativs,

wonach der Maßstab des eigenen Handelns

auch für alle anderen gelten solle,

wurde im Volksmund umgedreht zu der Formulierung:

„Ja, wenn das alle täten …!”


Ja, wenn alle wie die Grille in den Tag hinein lebten,

wer würde dann für den Winter vorsorgen?

Wer hielte die Wirtschaft am Laufen,

Produktion, Versorgung, Warenverkehr?

Wenn alle wie Grillen wären,

bräche unsere Wirtschaft zusammen.

Darum wird die emsige Ameise zum Vorbild erhoben:

Sie sorgt vor und kann immer von sich sagen:

Das habe ich alles allein geschafft

und bin niemandem etwas schuldig!

Von den Ameisen kommt deshalb das Sprichwort:

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!” -

ein radikaler Widerspruch zu den Worten Jesu

wie zu denen unseres Liedes.


II

„Ja, wenn das alle täten …”

Aus der Sicht der Emsigen

sind künstlerische Existenzen prinzipiell verdächtig:

Sie könnten ihnen eines Tages auf der Tasche liegen.

Das gilt nicht nur für Künstler:innen.

Ein alleinstehender Pastor war in seiner Gemeinde dafür bekannt,

dass er regelmäßig zu den Mahlzeiten

bei seinen Gemeindegliedern vorbeischaute.

Natürlich lud man ihn zu Tisch.

Aber hinter seinem Rücken tuschelte man,

er täte das absichtlich und würde sich durchfuttern.

Offenbar liegt eine solche Unterstellung nahe.

Aber wie viele klagen darüber,

dass sie nicht vom Pastor besucht werden!?

Dieser Pastor besuchte seine Gemeinde

und gab ihr Gelegenheit, großzügig und gastfreundlich zu sein.


Gastfreundschaft - früher einmal eine Selbstverständlichkeit

und ein hohes Gut: sie war heilig.

Ein Gast stand unter besonderem Schutz.

Früher wurde Besuch nicht als Last angesehen,

für den man das Haus aufräumen und putzen,

Essen zubereiten und ein Bett herrichten musste.

Sondern als jemand Besonderes, eine Bereicherung.

Ein Gast brachte Neuigkeiten, Informationen,

brachte den Duft der weiten Welt ins Haus.

Ein Gast brachte neue Geschichten,

die man sich im Winter am Ofen erzählen konnte,

oder neue Lieder mit.

Das, was ein Gast war und mitbrachte,

wurde für mindestens gleichwertig mit dem Aufwand gehalten,

den man seinetwegen betrieb.


Bei Künstler:innen wissen wir, was wir an ihnen haben.

Trotzdem sind heutzutage nur wenige bereit,

Geld für Konzert- oder Theaterkarten auszugeben

oder einer jungen, noch unbekannten Künstlerin

ein Bild abzukaufen.


Als Bundeskanzlerin Angela Merkel

ihren berühmt-berüchtigten Satz „Wir schaffen das” sagte

und syrische Flüchtlinge bei uns

einen Platz zum Überleben fanden,

wurden sie beim Karneval auf einem Umzugswagen

als Heuschrecken dargestellt.

Flüchtlinge als Heuschreckenplage,

die uns die Haare vom Kopf fressen -

ein wieder und wieder beschworenes Schreckensszenario.

Nichts dergleichen ist geschehen.

Niemand musste sich einschränken,

weil wir gastfreundlich waren zu Menschen in Not.


Warum sehen wir Fremde und Flüchtlinge als Schmarotzer,

die uns auf der Tasche liegen -

wie wir dem Pastor unterstellen,

er wolle sich nur durchfuttern?

Warum können wir nicht erkennen, was sie uns mitbringen

und was sie uns zu geben hätten,

wenn wir ihnen eine Chance gäben?

Wie sie uns bereichern durch ihr Wesen und ihr Wissen,

durch ihre andere Sicht auf unsere Gewohnheiten,

durch neue Kochrezepte, ungewohnte Klänge …


III

Der Fleiß der Emsigen,

die sich ihren Wohlstand aus eigener Kraft erarbeiten,

ist das Leitbild unserer Gesellschaft.

In seiner Extremform wird es zum amerikanischen Traum,

dass man es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen kann,

wenn man sich nur richtig anstrengt.

Die Kehrseite dieses neoliberalen Traumes ist,

dass er Sozialleistungen für überflüssig hält

und möglichst abschaffen will.

Nichts ist ihm unerträglicher,

als auf Kosten anderer zu leben

und vom eigenen Geld anderen abgeben zu müssen.

Im neoliberalen Paradies haben Grillen keine Chance.


Der Glaube entwirft ein anderes Bild.

Er hat keine Angst vor Abhängigkeit,

weil er sich auf Gott angewiesen, von Gott abhängig weiß.

Sein Ideal ist nicht, alles allein zu schaffen

und niemandem etwas schuldig zu sein.

Wir bleiben Gott gegenüber grundsätzlich Schuldner.

Darum ist es keine Schande, in jemandes Schuld zu stehen.

Es ist vielmehr eine Stärke,

anderen das Gefühl zu nehmen, Schuldner:in zu sein,

indem man ihnen Schuld erlässt und sie gastfreundlich einlädt.


Ein anderes Wort für Schuld erlassen ist Vergebung.

Vergebung und Gastfreundschaft gehören zusammen:

Gott vergibt uns und lädt uns in sein Haus ein.

Weil uns vergeben ist, können wir seine Gäste sein.

In seinen Gleichnissen erzählt Jesus vom gastfreundlichen Hausherrn

und meint damit Gott und sein Reich.

Seine Einladung verschmähen die Emsigen,

die besseres zu tun haben als zu feiern:

Sie gehen ihren Geschäften nach.


IV

„Sorgt nicht”, fordert Jesus auf.

Wie Gott die Vögel nicht umkommen lässt,

so wird er auch für euch sorgen.

Aber wie sorgt Gott für uns?

Wir haben eingangs festgestellt,

dass es nicht funktioniert, in den Tag hinein zu leben,

weil man sich dann unversehens als Bittsteller:in wiederfindet.


Wie sorgt Gott für uns?

Gott sorgt für uns durch Menschen,

die in ihrer Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft

nicht danach fragen,

was wir den ganzen Sommer über getrieben haben.

Sie öffnen uns die Tür, laden uns ein,

weil sie sehen und wert schätzen,

was wir sind und was wir ihnen zu geben haben -

oft, ohne es selbst zu wissen.


Es gibt solche Menschen.

Wir selbst sind ihnen hier und da begegnet.

Es waren besondere Erlebnisse,

es war bereichernd, bei ihnen einzukehren.

Wir fühlten uns reich beschenkt und merkten dabei gar nicht,

wie viel wir ihnen von uns gaben.


„Ja, wenn das alle täten …”

Unsere Gesellschaft muss sich nicht die Ameise zum Vorbild nehmen.

Der übrigens in der Fabel Unrecht geschieht:

Die Ameise gehört, wie Wespen und Bienen,

mit denen sie eng verwandt ist, zu den sozialen Insekten.

Aber sie sorgt nur für ihresgleichen,

für die Weitergabe der eigenen Gene,

um so einen evolutionären Vorteil zu erhalten.


Wir Menschen sind der natürlichen Auslese nicht mehr unterworfen.

Wir haben die Freiheit, uns anders zu entscheiden.

Wir haben die Freiheit, gastfreundlich zu sein,

die Grillen und die Fremden aufzunehmen

und ihnen einen Platz unter uns zu gewähren.

Ja, wenn das alle täten!

Sonntag, 21. April 2024

überschwängliche Gerechtigkeit

Predigt am Sonntag Jubilate, 21. April 2024, über Psalm 98,4-5.9

Liebe Schwestern und Brüder,


„jauchzet dem Herrn alle Welt. Singet, rühmet und lobet!”


Singen und Musizieren sind etwas Wunderbares.

Vor allem, wenn man es miteinander tut.

Dabei entsteht ein Klangraum,

in dem man sich gemeinsam bewegt.

Der Klang der Stimmen, der Instrumente erfüllen den Raum,

erfüllen alle, die sie hören,

sodass alle empfinden, was die Musik mitteilt:

Freude, Glück, Erhabenheit, auch Schmerz und Traurigkeit.

Man stimmt ein in die Worte, die man singt,

wird von ihnen überwältigt, und sie werden wahr,

nehmen Gestalt an durch die eigene Stimme,

und dann ist es Wirklichkeit:

Wir jauchzen dem Herrn. Wir singen, rühmen und loben.


Nicht immer ist einem zum Singen zumute.

Sonst müssten wir nicht aufgefordert werden: Jauchzet!

Es ist ja im Gegenteil eher so:

Viel zu selten spürt man einen solchen Überschwang,

einen solchen Jubel in sich,

dass man jauchzen möchte vor Glück.

Es gehört nicht zu unserem Alltagsrepertoire.

Und doch kennen wir es.

Und wenn auch nicht unsere Stimme jauchzte,

dann tat es unser Herz:


„Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel,

die Nacht ist verflattert, und ich freue mich am Licht.

So ein Tag, Herr, so ein Tag!

Deine Sonne hat den Tau weggebrannt

vom Gras und von unseren Herzen.

Was da aus uns kommt, was da um uns ist an diesem Morgen,

das ist Dank.

Herr, ich bin fröhlich heute, am Morgen.

Die Vögel und Engel singen, und ich jubiliere auch.

Das All und unsere Herzen sind offen für deine Gnade.

Ich fühle meinen Körper und danke.

Die Sonne brennt meine Haut, ich danke.

Das Meer rollt gegen den Strand,

die Gischt klatscht gegen unser Haus, ich danke.

Herr, ich freue mich an der Schöpfung

und dass du dahinter bist und daneben

und davor und darüber und in uns.

Ich freue mich, Herr, ich freue mich und freue mich.

Die Psalmen singen von deiner Liebe,

die Propheten verkündigen sie, und wir erfahren sie.

Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.

Ein neuer Tag, der glitzert und knistert,

knallt und jubiliert von deiner Liebe.

Jeden Tag machst du. Halleluja, Herr!”


I

Selten ist uns nach solchem Jubeln und Jauchzen zumute.

Wann bietet das Leben auch Anlass dazu?

Anstrengungen, Sorgen, das trostlose Einerlei des Alltags -

wer hat da Lust, zu jubeln?

Krankheit, Schmerzen, Einschränkungen, mit denen man leben muss,

Kummer, den man hat - wie sollte man da jauchzen?

Und selbst wenn man die Lust dazu in sich spürt,

bleibt es einem im Halse stecken

bei dem schlimmen Zustand, in dem sich unserer Welt befindet,

angesichts von Krieg, Zerstörung und Tod,

angesichts von Hunger, Unrecht und Unterdrückung.


So viel spricht dagegen, dass man sich kaum traut,

seiner Freude in der Weise Ausdruck zu verleihen,

wie es das Gebet aus Westafrika tut:

„Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.”

Das ist zu viel des Guten, zu viel des Überschwangs.

So einseitig jubeln, ohne das Schlimme mitzudenken,

darf man das denn überhaupt?


Was dagegen spräche, wurde schon benannt.

Was spräche denn dafür?

Ein sonniger, warmer Tag - vielleicht sogar der Geburtstag.

Ein unverhofftes Geschenk, ein unerwarteter Besuch.

Das Konzert der Vögel bei Sonnenaufgang.

Der Wind in den Haaren am Strand oder an Bord eines Seglers.

Die frische Luft nach einem Regenschauer.

Der Sonnenuntergang, der die Welt in ein besonderes Licht taucht.

Die Musik.


Der 98. Psalm nennt noch einen weiteren Grund dafür,

das Lob Gottes anzustimmen:


„Gott kommt, das Erdreich zu richten.

Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit

und die Völker, wie es recht ist.”


Auch Gerechtigkeit kann ein Grund zum Jubeln sein:

Wenn man sie erfährt, oder wenn sie am Ende siegt.


II

Gerechtigkeit - darunter verstehen wir

eine ausgleichende Gerechtigkeit:

Den Ausgleich unterschiedlicher, einander widerstreitender Interessen.

Deshalb hält Iustitia, das Recht in Person, eine Waage in der Hand.

Gerechtigkeit als Interessenausgleich, ausgleichende Gerechtigkeit

erleben wir, wenn jede:r das gleiche bekommt,

bzw. wenn jede:r bekommt, was ihr, was ihm zusteht.


Leider scheitert die ausgleichende Gerechtigkeit regelmäßig.

Sie scheitert an einer Eigenheit unseres Gerechtigkeitsempfindens:

Zwar spüren wir Ungerechtigkeit sofort,

wenn wir meinen, weniger zu bekommen, als uns zusteht -

oder wenn wir meinen,

andere bekämen mehr, als sie verdient haben.


Wir fühlen uns aber nicht ungerecht behandelt,

wenn wir mehr bekommen als andere.

Das nehmen wir gern hin oder denken gar,

wir hätten ein Recht darauf, es würde uns zustehen.

So kommt es bei allen Versuchen, Gerechtigkeit zu schaffen,

mit unerbittlicher Regelmäßigkeit dazu,

dass zwar im Prinzip alle gleich sind,

aber am Ende einige gleicher als die anderen.


III

Gottes Gerechtigkeit ist anders.

Sie ist nicht auf Ausgleich bedacht, auf Ausgewogenheit.

Im Gegenteil: Gefragt, wie oft man jemandem vergeben solle,

der einem Unrecht tat, antwortet Jesus:

Sieben mal siebzig Mal.


Gottes Gerechtigkeit schafft keinen Ausgleich,

keine gerechte Verteilung.

Sie gibt mit vollen Händen und fragt nicht,

ob der Empfänger es verdient hat.

Sie gibt, ohne zu überlegen,

sodass die Linke nicht weiß, was die Rechte tut.

Gottes Gerechtigkeit ist eine überschwängliche Gerechtigkeit.

Überschwänglich wie das Gebet aus Westafrika.

Überschwänglich wie die Musik.


In ihrem Überschwang ist Gottes Gerechtigkeit parteiisch,

weil ihr Maßstab die Liebe ist.

Wie wir aus Liebe zu unserer Familie

oder unseren Freund:innen zuerst an sie denken

und dann erst an all die anderen;

wie auch wir selten Grenzen der Liebe kennen -

Grenzen des Verständnisses, der Vergebung,

des Mitgefühls oder der Hilfsbereitschaft -,

wenn es um unsere Freund:innen, unsere Familie geht.


Weshalb Jesus immer wieder einschärfen muss,

dass unsere „Nächsten” nicht unsere Liebsten sind,

sondern die, die wir uns nicht ausgesucht haben

und die wir uns auch nicht aussuchen würden:

Wildfremde Menschen, unbequeme,

vielleicht sogar unangenehme Menschen,

die uns Gott - manchmal im Wortsinn - vor die Füße legt.


Gottes Liebe gilt den Menschen, für die er Partei ergreift.

Sein Volk, das er sich erwählte;

Menschen, die benachteiligt wurden:

Waisenkinder, Witwen, Ausländer:innen

waren es zur Zeit, als der Psalm gedichtet wurde.


Und sie sind es heute noch, da hat sich nichts geändert.

Es sind sogar noch weitere dazu gekommen:

- Menschen, die anders leben, anders lieben,

sich anders definieren als die Mehrheit der Gesellschaft.

- Frauen, die sich immer noch dagegen wehren müssen,

dass Männer über sie und ihren Körper

bestimmen und verfügen wollen.

- Kinder und Jugendliche, die sich nicht gehört,

in ihren Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen fühlen.

- Und auch - oder gerade, weil sie keine Stimme hat - die Natur:

Gottes Schöpfung und seine Geschöpfe,

deren Lebensräume wir vernichten,

deren Existenz wir bedrohen oder auslöschen.


IV

Gottes Gerechtigkeit ist parteiisch.

Gott ist auf der Seite derer, die nicht gehört werden,

weil man über sie hinweggeht,

weil man sie beiseite schiebt,

weil man sie niederbrüllt

oder mit Gewalt zum Verstummen bringt.


Wenn wir jauchzen, singen und loben,

leihen wir denen unsere Stimme, die keine haben.

Wir singen mit Maria von Gott,

der die Gewaltigen vom Thron stürzt

und die Niedrigen erhöht,

der die Hungrigen mit Gütern füllt

und die Reichen leer ausgehen lässt.


Wenn wir so singen, bewirken wir keinen Umsturz, keine Revolution,

auch wenn alles auf den Kopf gestellt wird - - -

oder vom Kopf auf die Füße?

Gottes Parteinahme gilt keiner Partei.

Sobald ehemals Niedrige, die reich und mächtig wurden,

sich über andere erheben und sie erniedrigen,

ist Gott nicht auf ihrer Seite.

Gottes Parteinahme gilt allen, die keine Stimme haben

oder die zum Verstummen gebracht wurden,

wer auch immer sie sind.


V

„Jauchzet dem Herrn, alle Welt!

Denn Gott kommt, das Erdreich zu richten.

Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit

und die Völker, wie es recht ist.”


Das Jauchzen und Loben, das Gott sich von uns wünscht,

ist nicht abhängig von unserer Stimmung.

Das kann es auch sein, wenn wir dadurch

unserem übervollen Herz Luft machen,

wenn wir Gott danken für das Glück, die Schönheit,

die Freude ode´r die Liebe, die wir erleben dürfen.


Das Jauchzen und Loben, das Gott sich von uns wünscht,

dient dazu, Gottes Gerechtigkeit in der Welt auszubreiten:

für die Partei zu ergreifen, die von keiner Partei vertreten werden;

denen unsere Stimmen zu leihen, die keine Stimme haben.

Wir singen von Gottes Gerechtigkeit.

Da richtet unser Gesang sie auf.

Unser Gesang richtet Menschen auf,

die bisher ihren Kopf einzogen,

sich nicht trauten, ihr menschliches Recht einzufordern,

sich verstecken oder verleugnen mussten.


Unser Gesang richtet Menschen auf,

die durch uns erfahren, dass es auch anders gehen kann.

An uns erleben sie Menschen, die anders sind.

Sie sehen, dass Menschen auch anders sein können:

Durchsichtig, durchscheinend für Gottes Liebe.

Wer Menschen so erlebt, so durchscheinend für Gottes Liebe,

so freundlich und mitmenschlich,

wird Gott jauchzen und loben.

Und dann ist es Wirklichkeit:

Wir jauchzen dem Herrn. Wir singen, rühmen und loben

mit unserem ganzen Sein, mit unserem ganzen Leben. Amen.

Montag, 1. April 2024

ganz hingerissen

Liedpredigt am Ostermontag, 1.4.2024, über EG 112


Liebe Schwestern und Brüder,


wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

An Ostern ganz besonders.

Der Überschwang der Osterfreude lässt uns singen vom Sieg.

Lässt uns den Tod auslachen: Halleluja-ha-ha

und das Leben feiern:

Christus ist auferstanden!


Mitten in der Osterfreude,

ganz hin- und mitgerissen vom österlichen Jubel

und in Vorfreude auf die Auferstehung,

die schon geschehen ist und geschieht, jetzt und hier,

schiebt sich die Wirklichkeit dazwischen

mit den Schmerzen und Sorgen, die wir zur Genüge kennen.

Mit all dem Leiden und Sterben auf der Welt,

dem Krieg und dem Terror, dem Hunger und der Angst.

Da wird der Osterjubel kleinlaut:

Darf man bei all dem Leid so fröhlich sein,

so unbeschwert aus vollem Halse lachen und singen?

Es ist ja auch unter uns, das Leid;

man war froh, es einen Moment vergessen zu können,

aber da drängt es sich schon wieder ins Bewusstsein.


Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Der Dichter Paul Gerhardt nimmt mit dem Lied

„Auf, auf, mein Herz, mit Freuden” den Mund ganz schön voll

und sagt viel mehr, als man guten Gewissens sagen kann.

Johann Crüger schreibt dazu eine Melodie,

die wie eine Aufforderung zum Tanzen ist, die in Bewegung setzt

und in ihrer zweiten Hälfte voran drängt und aufwärts,

immer höher, bis in den Himmel.

Hören wir auf diese Melodie, singen wir die erste Strophe

und horchen dabei in uns hinein,

was Text und Melodie mit uns machen.


EG 112,1


Die Musik beschwingt, macht fröhlich, macht gute Laune.

Doch die erste Strophe ist in ihrem Jubel noch verhalten.

Da ist schon das österliche Licht,

aber noch ist es kaum zu glauben, nicht zu fassen:

Woher kommt dieses Licht?


Dann steigt Paul Gerhardt mit uns hinab.

Während die Melodie aufsteigt, nimmt er das Grab vorweg,

das auf alle wartet - ausgerechnet an Ostern muss er daran erinnern!

Aber die bittere Realität hat ja bereits einen Schatten

auf unsere Osterfreude geworfen.

Mit seinen Worten macht Paul Gerhardt das,

was wir quasi von selbst tun:

Er trübt die österliche Freude.

Wenigstens lässt er uns den Himmel,

der uns dermaleinst verheißen ist.


Mit der zweiten Strophe ändert sich alles.

Wie in einem Guckkasten, einem Kasperletheater

sehen wir ein eigenartiges, fast derbes Schauspiel vor uns.

Beim Kasperletheater flößen das böse Krokodil

oder der Schutzmann den zuschauenden Kindern Angst ein.

Aber dann kommt der Kasper und haut ihnen auf den Kopf,

dass die Kinder lachen müssen.

Sie lachen das Böse aus, sie lachen sich ihre Angst von der Seele.


Im Lied triumphiert der Teufel, dass er Christus besiegt hat -

da steht Christus schon wieder da wie die Kasperlepuppe

und schwenkt seine Siegesfahne.

Wie Paul Gerhardt hier die Auferstehung beschreibt,

hat sie etwas Befremdliches:

Darf man aus der Auferstehung ein Kasperletheater machen?


Aber er macht ja nicht aus Jesus einen Kasper,

sondern gibt Tod und Teufel der Lächerlichkeit preis.

Dieses Lustspiel schaut er sich in der 3. Strophe an -

und stellt fest, wie er dadurch die Angst verliert.

Lassen Sie uns sehen, ob es uns auch so geht,

wenn wir die 2. und 3. Strophe singen:


112,2+3


Was passiert hier?

Beim Singen geht es uns wie den Kindern,

die dem Kasperletheater zuschauen:

Was uns Angst macht, lachen wir aus.

Wir werden selbst zu fahnenschwingenden Sieger:innen.

Das Lied singt uns einen Heldenmut zu,

den wir bei uns nicht vermutet hätten.


Mit diesem Mut schauen wir an,

was uns die Osterfreude vergällt.

Es kommt uns nicht mehr so erdrückend,

so mächtig und überwältigend vor.

Mut macht uns die Auferstehung selbst -

das edle Gut, das Jesus uns erworben hat.

Sie lässt uns im Überschwang über alles wegtanzen,

was uns den Mut nehmen will.

Wir haben plötzlich Kraft für zwei.

Und wir haben keine Angst mehr.

Weder vor Tod und Teufel, noch vor der Welt.

Davon singen die nächsten beiden Strophen:


112,4+5


Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Aber, Paul Gerhardt, nimmst du den Mund nicht zu voll?

Du kommst mir vor wie ein Kind, das sich stark fühlt,

weil es sich hinter dem Rücken seines großen Bruders versteckt

und deshalb große Töne spuckt.

Bist du noch so mutig, wenn du allein

der Höll und ihren Rotten gegenüberstehst?

Wenn du die Macht des Todes erleben musst,

weil ein lieber Mensch stirbt?

Wenn dir der Hass der Wutbürger ins Gesicht schlägt,

wenn die Sorgen über dir zusammenschlagen?


Paul Gerhardt musste all das erleben:

Die Schrecken des 30jährigen Krieges,

den Tod vieler seiner Kinder

und schließlich sogar den viel zu frühen Tod seiner Frau.

Er erlebte Anfeindungen, und die Ausweisung aus Berlin,

wo er mit Johann Crüger an der Nikolaikirche

so gut zusammengearbeitet,

so viele schöne Lieder geschaffen hatte.


Gerade weil Paul Gerhardt so viel Schweres erlebte,

hat er seine schönen Lieder gedichtet.

Sie alle haben eines gemeinsam: In ihnen redet ein Ich.

Es ist Paul Gerhardts Ich, das sich mit diesen Gedichten

selbst Trost zuspricht.

Wenn wir diese Lieder singen, wird sein Ich zu unserem.

Seine Lieder sind Selbstgespräche - darum sprechen sie uns an.

Wir machen uns selber Mut, wenn wir sie singen,

werden wieder zuversichtlich und fröhlich.


Nun könnte man einwenden:

Ist das nicht ein Pfeifen im dunklen Wald?

Ja, das ist es.

Es hilft zu pfeifen oder zu singen, wenn man Angst hat,

allein im dunklen Wald.

Das Singen vertreibt die Angst -

oder lässt sie zumindest erträglicher werden.


Und es vertreibt möglicherweise auch das,

was im dunklen Wald Angst macht -

nicht nur, wenn man schiefe und falsche Töne singt,

auch, wenn man richtig schön singt.

Im italienischen Appenin, wo man Bären ausgewildert hat,

wird man jedenfalls auf Schildern dazu angehalten,

den Wald nur laut singend zu betreten,

weil die Bären dann reißaus nehmen.


Paul Gerhardts Lied ist aber mehr

als ein Pfeifen im dunklen Wald.

Und seine Worte sind mehr als die großen Töne,

die eine freche Göre oder ein Rotzbengel spucken.

Er hält sich an Christus,

von ihm lässt er sich mitreißen,

und das reißt ihn hindurch durch alles,

was ihm den Mut nehmen will.

Wenn wir davon singen,

werden wir ebenso mitgerissen,

durch Tod, Welt, Sünd und Not hindurch.

Davon singen wir mit der 6. und 7. Strophe:


112,6+7


Die Auferstehung lässt uns lachen und jubeln,

sie lässt uns den Lasten und Sorgen des Alltags die Stirn bieten.

Die Auferstehung ist aber nicht nur etwas,

was uns dermaleinst erwartet, am Ende der Zeiten.

Sie lässt uns schon jetzt nach Niederlagen wieder aufstehen.

Sie lässt uns den Aufstand wagen gegen todbringende Mächte

und gibt uns den Mut, es mit den Dunkelheiten aufzunehmen.

Den Dunkelheiten in der Welt und in uns.


Weil Christus auferstanden ist,

sind diese Worte mehr als ein Pfeifen im dunklen Wald.

Christi Auferstehung reißt uns mit,

sie ist eine Energie, ein Schwung,

der uns gar nicht erst zum Nachdenken

oder gar zum Grübeln kommen lässt,

sondern uns geradezu leichtsinnig und übermütig macht.


Und bevor wir uns besorgt fragen können,

ob wir das schaffen, haben wir es schon geschafft.

Wir sind schon hindurch, weil Christus uns den Weg bahnt

und weil wir an ihm festhalten.

Das Festhalten an Christus gibt uns Halt,

wie es Paul Gerhardt Halt gegeben hat

und die Zuversicht, die ihn dieses Lied schreiben ließ.

Dieser Halt bleibt uns auch und gerade,

wenn Jubel und Überschwang des Osterfestes hinter uns liegen.


Schweres, Leid und Schmerzen bleiben uns nicht erspart.

Eines - hoffentlich noch fernen - Tages

wird sich auch unser Lebenskreis vollenden.

Hier schließt sich auch der Kreis des Liedes.

In der ersten Strophe schwang er sich vom Grab zum Himmel auf.

In der letzten blickt er von der Himmelspforte aus

zurück auf das Leben.


Man mag sich eine Himmelspforte heute nicht mehr vorstellen,

ein womöglich metallenes Tor mit einem Messingschild,

gar einem Klingelknopf.

So befremdlich das Bild von der Himmelspforte und den

„güldenen Worten” über ihr sein mag,

die Worte selbst sind keine leere Parole,

wie sie früher auf Wänden und Transparenten zu lesen waren.

Es sind die Worte des Auferstandenen,

die unserem Leben ein gutes Ende versprechen.

Von diesem guten Ende her

hören wir den Auferstandenen zu uns sprechen,

wie er uns zusagt:

„Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”


So lassen Sie uns diese Predigt und das Lied beschließen

mit seiner letzten Strophe:


EG 112,8