Samstag, 7. Januar 2012

Zur Schwäche stehen - Predigt zum 1. Sonntag nach Epiphanias

Predigt am 1.Sonntag nach Epiphanias, 8.1.2012 über 1.Korinther 1,26-31:

Schwestern und Brüder,
seht euch eure Berufung an:
nicht viele, die den Durchblick haben,
nicht viele Vermögende,
nicht viele gut Vernetzte.
Sondern wer in der Welt als Einfaltspinsel gilt,
die hat Gott ausgewählt,
um die Schlauen zu beschämen;
und wer in der Welt als Minderleister gilt,
die hat Gott ausgewählt,
um die Leistungsträger zu beschämen;
und wer in der Welt als unwichtig und überflüssig gilt,
die hat Gott ausgewählt -
das, was nichts ist -,
damit das, was etwas ist, wirkungslos wird.
So kann sich vor Gott niemand etwas einbilden.
Seinetwegen aber seid ihr in Christus Jesus,
der durch Gott unser Durchblick wurde,
unsere Gerechtigkeit, unser in Ordnung-Sein
und unsere Befreiung.


Liebe Gemeinde,

im Jahr 1966 wurde das Stück "Publikumsbeschimpfung",
eines der ersten Werke von Peter Handke,
von Klaus Peymann uraufgeführt.
Da stehen vier Schauspieler auf der Bühne,
aber sie spielen nicht, sondern sie reden das Publikum an,
und am Ende des Stückes beschimpfen sie es,
und das auch noch mit ziemlich unfreundlichen
und keineswegs lustig oder ironisch gemeinten Wörtern.

Ich kann mir vorstellen,
dass das vielen Theaterbesuchern nicht gefallen hat
- wer lässt sich schon gern öffentlich beschimpfen,
auch - oder vielleicht gerade - wenn das "Kunst" ist?
Dazu geht man nicht ins Theater.
Und dazu geht man auch nicht in die Kirche.

Aber eben sind Sie hier beschimpft worden,
hier, im Gottesdienst.
Nicht so drastisch und verletzend
wie in Handkes "Publikumsbeschimpfung".
Aber doch mit Titeln, die man nicht so gern hat:
"Einfaltspinsel", "Minderleister", "unwichtig und überflüssig".
Oder haben Sie sich da gar nicht angesprochen gefühlt?

Sie waren aber gemeint!

I
"Seht euch eure Berufung an".
Was sollen wir uns da eigentlich ansehen?
In der "Berufung" steckt der "Ruf".
Professorinnen und Professoren z.B. werden berufen;
sie erhalten einen "Ruf" an eine Universität,
auf einen Lehrstuhl, weil sie sich einen Ruf erwarben:
durch ihre Veröffentlichungen und Vorträge haben sie gezeigt,
dass sie etwas können und wissen und zu sagen haben.
Wer einen Ruf bekommt, der ist Jemand, der hat's geschafft.

In der "Berufung" steckt auch der "Beruf".
Wer berufen wird, der bekommt dadurch einen Beruf,
eine Aufgabe zugeteilt, die er oder sie auszufüllen hat
- und das aufgrund seiner oder ihrer Fähigkeiten auch kann.

Wir sind Berufene, aber in der Mehrheit sind wir
keine Professorinnen oder Professoren;
"nicht viele, die den Durchblick haben", sagt Paulus.
Damit ist noch ein wenig mehr gemeint als die Klugkeit,
die eine Professorin oder ein Professor besitzt
und an die nicht viele heranreichen.
Es geht dabei auch um ein Wissen,
das die einen haben - und die anderen nicht.
"Herrschaftswissen", nennt man das.
Da wird nicht alles gesagt, was man weiß;
man behält sein Wissen für sich,
lässt nur bestimmte Leute daran teilhaben,
und nur in kleinen Portionen.
Das kann man gerade sehr gut an der Auseinandersetzung
zwischen der BILD-Zeitung
und dem Bundespräsidenten Christian Wulf beobachten,
wie genau beide ihr Wissen dosieren.
Herr Wulf erzählt immer nur so viel, wie er muss.
Und die BILD-Zeitung veröffentlicht gerade so viel,
um Herrn Wulf weiter unter Druck zu setzen.

II
"Seht euch eure Berufung an:
nicht viele, die den Durchblick haben,
nicht viele Vermögende,
nicht viele gut Vernetzte."

Ist Ihnen das auch schon aufgefallen,
dass in der Kirche selten die zu finden sind,
die in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Macht haben?
Nun muss man daraus nicht schließen,
dass diese Leute mit der Kirche nichts am Hut haben.
Menschen wie Herr Wulf oder Frau Merkel
können ja nicht einfach so in einen Gottesdienst gehen.
Das muss von langer Hand geplant werden.
Die Polizei muss vorher Kirche und Gelände
nach Sprengstoff absuchen
und während des Gottesdienstes
ist ein Großaufgebot nötig, das für die Sicherheit sorgt.

Aber vielleicht ist es auch so,
dass, wenn man etwas erreicht hat,
wenn man jemand ist, den man kennt
- oder gern kennen lernen würde,
wenn man viel besitzt, sich vieles leisten kann,
beruflich und privat erfolgreich ist,
dass man in einem solchen Fall
kein großes Bedürfnis verspürt, zur Kirche zu gehen.

Wer sich keiner Schuld bewusst ist -
warum sollte der Vergebung suchen?
Wer seinen Erfolg der eigenen Klugheit,
dem richtigen Gespür, der eigenen Leistung zu verdanken hat -
warum sollte die dankbar sein?
Wer mehr hat, als sie braucht
und sich jeden Wunsch erfüllen kann,
warum sollte die um etwas bitten?

Es scheint, als ob Kirche eher etwas
für die untere Hälfte der Gesellschaft ist,
für die "Einfaltspinsel", die "Minderleister",
die "Unwichtigen und Überflüssigen", eben.
Wäre das sehr schlimm?
Und würde ich mich, würden Sie sich dazu zählen?
Oder rechnen wir uns nicht eher zur "Mitte",
die von allen Parteien so heftig umworben wird?
Die "Mitte" ist zwar genau die Hälfte der Gesellschaft,
aber doch eher die obere als die untere Hälfte.

III
Nein, so möchte man nicht genannt werden:
"Einfaltspinsel", "Minderleister", "unwichtig und überflüssig",
und so möchte man auch nicht angesehen werden.
Diese Ausdrücke werden als Kränkungen empfunden
- und oft ja auch so gemeint.
Es gehört zu unseren geheimen Wünschen,
keine und keiner "von denen" zu sein,
auf die man so herabblickt,
über die man so redet,
sondern Jemand zu sein,
etwas darzustellen, gesellschaftlich aufzusteigen.

Paulus aber sagt:
Dazu seid ihr nicht berufen.
Ihr sollt nicht danach streben,
Jemand zu sein oder zu werden.
Gott hat sich nicht die ausgesucht,
die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Führungspositionen innehaben.
Gott interessiert sich nicht für die Klugen,
die Starken, die Adligen und Berühmten.
Gott liest, sozusagen, nicht "BUNTE" oder "NEUE REVUE",
Gott liest nicht "KAPITAL" oder "MANAGER",
und er liest auch nicht die Titelseiten
von BILD, STERN und SPIEGEL.

Gott interessiert sich für die,
die nie in der Zeitung stehen,
die höchstens aus Versehen mit aufs Foto kommen.
Und Gott legt keinen Wert darauf,
dass wir in der Zeitung stehen,
dass seine Kirche eine "gute Presse" hat.
Weil all das von Gott wegweist auf Menschen,
die sich dann etwas darauf einbilden,
dass sie in der Zeitung stehen
- so sind wir nun mal.

IV
Wir sind von Gott berufen.
Wir sind von ihm persönlich auserwählt.
Und wir haben einen Auftrag bekommen,
wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.
Leider hat Gottes Ruf hat nicht die Aura,
die eine Berufung zur Professorin oder zum Professor hat.
Sie ist, so scheint es, nichts wert,
weil jede und jeder sie bekommen kann.
Sie wird einem geradezu hinterhergeworfen.
Man bekommt sie ja schon bei der Taufe,
diese Berufung,
wo man noch gar nichts ist,
und wo noch gar nicht heraus ist,
ob je etwas aus einem wird.

Gottes Auftrag ist auch keiner,
bei dem man sich mit Ruhm bekleckert.
Im Gegenteil: Es ist eine undankbare Sache,
sich um seine Mitmenschen zu kümmern.
Die meisten wissen es nicht zu schätzen,
sagen oft nicht einmal Danke.
Es kostet Zeit und Kraft,
und man steht sich hinterher nicht besser als vorher.
Warum also sollte man so etwas tun?

Einzig und allein aus dem Grund,
weil Gott es von uns will.
Und trotzdem ist es nicht umsonst.
Wir bekommen von Gott etwas dafür:
"Seinetwegen seid ihr in Christus Jesus,
der durch Gott unser Durchblick wurde,
unsere Gerechtigkeit, unser in Ordnung-Sein
und unsere Befreiung."

V
Es geht letztendlich darum,
Gott Gott sein zu lassen,
damit wir Menschen Menschen sein und bleiben können.
So erstrebenswert es ist, ein "großes Tier" zu sein:
Man ist dann nicht mehr man selbst.
Man hat neben dem eigenen Ich noch ein zweites:
das Amt, das man ausfüllen muss,
das einem meist eine Nummer zu groß ist
und einen zwingt, Kompromisse einzugehen, sich zu verbiegen
- manchmal auch das Recht und die Wahrheit.
Man kann dann nicht mehr gestehen,
einen Fehler gemacht zu haben;
man kann nicht mehr Schuld bekennen und auf sich nehmen,
weil man in einem solchen Amt keine Fehler machen,
keine Schwäche zeigen, nicht "das Gesicht verlieren" darf.

Natürlich darf man das.
Warum sollte man davor Angst haben,
sein Gesicht zu verlieren,
wenn Gott uns freundlich ansieht,
wenn Gottes Angesicht über uns leuchtet,
wie wir es im Segen zugesprochen bekommen?

Man darf auch in einem hohen Amt Mensch sein.
Aber dazu würde gehören, dass man Vertrauen hat:
Vertrauen, dass man auch jemand ist ohne dieses Amt.
Vertrauen, dass einen das Eingeständnis von Schuld,
das Zugeben eines Fehlers nicht vernichtet,
nicht das Gesicht oder gar die Existenz kostet,
sondern erst zu wahrer Größe führt.

Das kann wohl nur jemand, der gelernt hat,
sich von Paulus beschimpfen zu lassen
als "Einfaltspinsel", "Minderleister",
"unwichtig und überflüssig".
Der stolz darauf sein kann, so eine, so einer zu sein,
weil Gott dann alles sein kann
und man selbst Mensch bleiben darf.

Die Freiheit, Mensch sein und bleiben zu dürfen,
ein Mensch, der sich irrt, der Fehler macht,
der das Beste will und dabei oft Schlechtes tut,
diese Freiheit ist nur um den Preis zu haben,
dass wir zugeben, Menschen zu sein,
dass wir dazu stehen, dass wir "Einfaltspinsel" sind,
"Minderleister", "unwichtig und überflüssig".

Wenn wir diesen Schritt wagen, dann sind wir wer:
Von Gott Berufene und mit seiner Berufung Ausgestattete.
Das ist ein Amt, das höher ist als jedes andere,
als jedes Pfarramt, jedes Propstamt,
ja selbst als das Amt des Bundespräsidenten.
Dieses Amt können wir auch nicht verlieren.
Niemals.

Es gibt nichts Größeres und Wichtigeres,
als dass wir durch Jesus den Durchblick bekommen.
Er macht uns gerecht, er sagt uns zu,
dass wir in Ordnung sind.
Unser Glaube ist unsere Befreiung.
Amen.