Dienstag, 28. Februar 2017

ganz still

Ansprache am Aschermittwoch über Joel 2,12-18

Doch auch jetzt noch, spricht der HERR, bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und bekehrt euch zu dem HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und es gereut ihn bald die Strafe. Wer weiß, ob es ihn nicht wieder gereut und er einen Segen zurücklässt, sodass ihr opfern könnt Speisopfer und Trankopfer dem HERRN, eurem Gott. Blast die Posaune zu Zion, sagt ein heiliges Fasten an, ruft die Gemeinde zusammen! Versammelt das Volk, heiligt die Gemeinde, sammelt die Ältesten, bringt zusammen die Kinder und die Säuglinge! Der Bräutigam gehe aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Gemach! Lasst die Priester, des HERRN Diener, weinen zwischen Vorhalle und Altar und sagen: HERR, schone dein Volk und lass dein Erbteil nicht zuschanden werden, dass Heiden über sie spotten! Warum willst du unter den Völkern sagen lassen: Wo ist nun ihr Gott?
Dann wird der HERR um sein Land eifern und sein Volk verschonen.


Liebe Schwestern und Brüder!

"Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. 
Wenn das Zufällige und Ungefähre 
verstummte und das nachbarliche Lachen, 
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, 
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:

Dann könnte ich in einem tausendfachen 
Gedanken bis an deinen Rand dich denken 
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), 
um dich an alles Leben zu verschenken 
wie einen Dank."

(Rainer Maria Rilke, Stundenbuch)

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...
das sind nicht die Worte einer jungen Mutter,
eines jungen Vaters, deren Kind die gefürchteten Dreimonatskoliken hat;
auch nicht der Stoßseufzer eines Menschen, der an einer Umgehungsstraße wohnt.
Es sind die romantischen Gedanken des Dichters Rainer Maria Rilke.

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...
Das kann man sich schon vorstellen, wie das wäre:
Wenn alle Sorgen vergessen wären,
alles Kreisen um Fragen und Probleme
für einen Moment aufhören würde.
Wenn man ein großes Einssein mit Gott,
ein Einverstandensein mit dem, was ist,
empfinden würde, wie das ganz selten
in ganz besonderen Augenblicken des Lebens geschieht.
Man kann sich das schon vorstellen.
Aber so still, dass nicht einmal das Geräusch der eigenen Sinne zu hören ist,
so still wird es nie.
Und darum kann man Gott auch nie in einem tausendfachen Gedanken denken.
Es ist schon schwer genug,
nur einen Gedanken auf Gott zu richten,
sich auf Gott zu konzentrieren.

Das, so will es der Prophet Joel, sollen die Israeliten tun:
sich auf Gott konzentrieren,
um ein bereits eingetretenes Unheil abzuwenden.
Und wie bei Rilke, so ist es auch bei Joel sehr fraglich,
ob es jemals gelingt, Volk und Gemeinde,
Älteste, Kinder und Säuglinge,
Bräutigam und Braut für eine Sache,
und sei sie noch so gut, dringend und wichtig,
zu versammeln.
Dass sich alle einig werden,
dass alle an einem Strang ziehen:
wenn das gelänge,
so würde das Unheil abgewendet werden.
Dann würde "der Herr um sein Land eifern
und sein Volk verschonen".

Immer wieder stoßen wir in der Bibel auf so unerfüllbar scheinende Forderungen:
"Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, 
so könnt ihr sagen zu diesem Berge: 
Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; 
und euch wird nichts unmöglich sein."

(Matthäus 17,20)

"Wenn ihr Glauben habt ..."
Anscheinend haben wir diesen senfkorngroßen Glauben nicht.
Anscheinend ist es nicht möglich, Menschen zu einer gemeinsamen Anstrengung zu versammeln,
anscheinend wird es niemals so ganz stille ...
Es ist nur eine romantische Vorstellung,
ein Traum, der unerfüllbar bleiben muss.
Wer es schon einmal ernsthaft versucht hat
damit, auch nur eine kleine Gruppe auf ein Ziel einzuschwören,
wer es probiert hat mit der Stille, mit dem Glauben,
der wird zustimmen: So konzentriert,
so rein, so ganz und gar eins zu werden,
still zu sein oder zu glauben,
ist Menschen nicht möglich.
Immer kommt etwas dazwischen.
Eigensinn. Egoismus.
Ein Gedanke. Ein Geräusch.
All das ausschließen zu wollen,
erfordert eine übermenschliche Anstrengung.
Das ist unmenschlich.

Auch die Nonnen und Mönche im Kloster haben das nicht geschafft.
Selbst sie, die noch keine Radios und CDs,
keine Smartphones und kein Fernsehen kannten,
die fernab von der Stadt und ihrem Treiben
in tiefer Stille lebten - selbst sie haben es nie erlebt,
dass es einmal so ganz stille wurde.
Irgendwer hat sich immer bewegt,
musste husten oder sich kratzen.
Oder es riefen ein Vogel oder ein Tier,
pfiff der Wind um die Mauern ...
ganz still jedenfalls war es selbst im Kloster nie.

Es ist einfach nicht zu schaffen.

Und man muss es auch nicht schaffen.
Das romantische Bild von völliger Stille,
das Bild Joels von der Versammlung der ganzen Gemeinde,
Jung und Alt, Groß und Klein,
es ist ernst gemeint,
aber es ist nur ein Bild.

Aber warum sage ich "nur"?

Wie sehr haben Menschen sich geplagt und gequält,
wenigstens einmal diese große Stille zu erleben,
wenigstens einmal Gott ganz zu denken?
Wie sehr sorgten und sorgen sich Menschen,
dass ihr Glaube nicht groß genug sein könnte,
wenn er doch offenbar kleiner als ein Senfkorn ist?

Weil sie von diesem Bild überzeugt waren.
Weil sie meinten, so müsste es sein:
Ganz still. Völlig einig. Tief gläubig.

Das Bild hat eine Kraft, die dazu in der Lage ist,
uns unseren Unglauben vorzuhalten,
unsere Unfähigkeit und Unmöglichkeit:
Dein Glaube ist nicht einmal so groß wie ein Senfkorn!
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...

Wie aber, wenn das Bild nicht dazu da wäre,
uns zu verurteilen,
sondern vielmehr einer tiefen Sehnsucht
Ausdruck und Gestalt gibt.
Der Sehnsucht nach Einssein. Nach Stille.
Der Sehnsucht danach,
die Kraft und Macht des Glaubens zu erleben.
Unheil abwenden, Berge versetzen zu können?

Eine Sehnsucht, die sich nicht erfüllt.

Sie muss sich auch nicht erfüllen.
Sie ist dazu da, Sehnsucht zu bleiben.
Als Sehnsucht gibt sie unserem Leben ein Ziel und eine Richtung, wie ein Kompass.
Als Sehnsucht weist sie auf das, was wirklich wichtig ist:
Nicht die Fernseher und Computer,
nicht Haus und Auto.
Sondern Einssein, Einigkeit, Gemeinschaft.
Stille. Bei sich-Sein. Und bei Gott-Sein.

Die Passionszeit gibt dieser Sehnsucht neue Nahrung.
Und sie gibt ihr Raum.
Zeiten der Stille, Zeit zur Besinnung.
Zeit, in der wir spüren,
dass unser Glaube größer ist, als wir dachten
und dass Gott uns näher ist, als wir ahnten.

Um es noch einmal anders
und noch einmal mit Worten Rainer Maria Rilkes zu sagen:

"Ich finde dich in allen diesen Dingen, 
denen ich gut und wie ein Bruder bin; 
als Samen sonnst du dich in den geringen 
und in den großen gibst du groß dich hin. 

Das ist das wundersame Spiel der Kräfte, 
dass sie so dienend durch die Dinge gehn: 
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte 
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn."