Ansprache
am Aschermittwoch über Joel 2,12-18
Doch auch jetzt noch, spricht der HERR, bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und bekehrt euch zu dem HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und es gereut ihn bald die Strafe. Wer weiß, ob es ihn nicht wieder gereut und er einen Segen zurücklässt, sodass ihr opfern könnt Speisopfer und Trankopfer dem HERRN, eurem Gott. Blast die Posaune zu Zion, sagt ein heiliges Fasten an, ruft die Gemeinde zusammen! Versammelt das Volk, heiligt die Gemeinde, sammelt die Ältesten, bringt zusammen die Kinder und die Säuglinge! Der Bräutigam gehe aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Gemach! Lasst die Priester, des HERRN Diener, weinen zwischen Vorhalle und Altar und sagen: HERR, schone dein Volk und lass dein Erbteil nicht zuschanden werden, dass Heiden über sie spotten! Warum willst du unter den Völkern sagen lassen: Wo ist nun ihr Gott?
Dann wird der HERR um sein Land eifern und sein Volk verschonen.
Liebe
Schwestern und Brüder!
"Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank."
(Rainer Maria Rilke, Stundenbuch)
Wenn
es nur einmal so ganz stille wäre ...
das
sind nicht die Worte einer jungen Mutter,
eines
jungen Vaters, deren Kind die gefürchteten Dreimonatskoliken hat;
auch
nicht der Stoßseufzer eines Menschen, der an einer Umgehungsstraße
wohnt.
Es
sind die romantischen Gedanken des Dichters Rainer Maria Rilke.
Wenn
es nur einmal so ganz stille wäre ...
Das
kann man sich schon vorstellen, wie das wäre:
Wenn
alle Sorgen vergessen wären,
alles
Kreisen um Fragen und Probleme
für
einen Moment aufhören würde.
Wenn
man ein großes Einssein mit Gott,
ein
Einverstandensein mit dem, was ist,
empfinden
würde, wie das ganz selten
in
ganz besonderen Augenblicken des Lebens geschieht.
Man
kann sich das schon vorstellen.
Aber
so still, dass nicht einmal das Geräusch der eigenen Sinne zu hören
ist,
so
still wird es nie.
Und
darum kann man Gott auch nie in einem tausendfachen Gedanken denken.
Es
ist schon schwer genug,
nur
einen Gedanken auf Gott zu richten,
sich
auf Gott zu konzentrieren.
Das,
so will es der Prophet Joel, sollen die Israeliten tun:
sich
auf Gott konzentrieren,
um
ein bereits eingetretenes Unheil abzuwenden.
Und
wie bei Rilke, so ist es auch bei Joel sehr fraglich,
ob
es jemals gelingt, Volk und Gemeinde,
Älteste,
Kinder und Säuglinge,
Bräutigam
und Braut für eine Sache,
und
sei sie noch so gut, dringend und wichtig,
zu
versammeln.
Dass
sich alle einig werden,
dass
alle an einem Strang ziehen:
wenn
das gelänge,
so
würde das Unheil abgewendet werden.
Dann
würde "der Herr um sein Land eifern
und
sein Volk verschonen".
Immer
wieder stoßen wir in der Bibel auf so unerfüllbar scheinende
Forderungen:
"Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn,
so könnt ihr sagen zu diesem Berge:
Heb dich dorthin!, so wird er sich heben;
und euch wird nichts unmöglich sein."
(Matthäus 17,20)
"Wenn ihr Glauben habt ..."
Anscheinend
haben wir diesen senfkorngroßen Glauben nicht.
Anscheinend
ist es nicht möglich, Menschen zu einer gemeinsamen Anstrengung zu
versammeln,
anscheinend
wird es niemals so ganz stille ...
Es
ist nur eine romantische Vorstellung,
ein
Traum, der unerfüllbar bleiben muss.
Wer
es schon einmal ernsthaft versucht hat
damit,
auch nur eine kleine Gruppe auf ein Ziel einzuschwören,
wer
es probiert hat mit der Stille, mit dem Glauben,
der
wird zustimmen: So konzentriert,
so
rein, so ganz und gar eins zu werden,
still
zu sein oder zu glauben,
ist
Menschen nicht möglich.
Immer
kommt etwas dazwischen.
Eigensinn.
Egoismus.
Ein
Gedanke. Ein Geräusch.
All
das ausschließen zu wollen,
erfordert
eine übermenschliche Anstrengung.
Das
ist unmenschlich.
Auch
die Nonnen und Mönche im Kloster haben das nicht geschafft.
Selbst
sie, die noch keine Radios und CDs,
keine
Smartphones und kein Fernsehen kannten,
die
fernab von der Stadt und ihrem Treiben
in
tiefer Stille lebten - selbst sie haben es nie erlebt,
dass
es einmal so ganz stille wurde.
Irgendwer
hat sich immer bewegt,
musste
husten oder sich kratzen.
Oder
es riefen ein Vogel oder ein Tier,
pfiff
der Wind um die Mauern ...
ganz
still jedenfalls war es selbst im Kloster nie.
Es
ist einfach nicht zu schaffen.
Und
man muss es auch nicht schaffen.
Das
romantische Bild von völliger Stille,
das
Bild Joels von der Versammlung der ganzen Gemeinde,
Jung
und Alt, Groß und Klein,
es
ist ernst gemeint,
aber
es ist nur ein Bild.
Aber
warum sage ich "nur"?
Wie
sehr haben Menschen sich geplagt und gequält,
wenigstens
einmal diese große Stille zu erleben,
wenigstens
einmal Gott ganz zu denken?
Wie
sehr sorgten und sorgen sich Menschen,
dass
ihr Glaube nicht groß genug sein könnte,
wenn
er doch offenbar kleiner als ein Senfkorn ist?
Weil
sie von diesem Bild überzeugt waren.
Weil
sie meinten, so müsste es sein:
Ganz
still. Völlig einig. Tief gläubig.
Das
Bild hat eine Kraft, die dazu in der Lage ist,
uns
unseren Unglauben vorzuhalten,
unsere
Unfähigkeit und Unmöglichkeit:
Dein
Glaube ist nicht einmal so groß wie ein Senfkorn!
Wenn
es nur einmal so ganz stille wäre ...
Wie
aber, wenn das Bild nicht dazu da wäre,
uns
zu verurteilen,
sondern
vielmehr einer tiefen Sehnsucht
Ausdruck
und Gestalt gibt.
Der
Sehnsucht nach Einssein. Nach Stille.
Der
Sehnsucht danach,
die
Kraft und Macht des Glaubens zu erleben.
Unheil
abwenden, Berge versetzen zu können?
Eine
Sehnsucht, die sich nicht erfüllt.
Sie
muss sich auch nicht erfüllen.
Sie
ist dazu da, Sehnsucht zu bleiben.
Als
Sehnsucht gibt sie unserem Leben ein Ziel und eine Richtung, wie ein
Kompass.
Als
Sehnsucht weist sie auf das, was wirklich wichtig ist:
Nicht
die Fernseher und Computer,
nicht
Haus und Auto.
Sondern
Einssein, Einigkeit, Gemeinschaft.
Stille.
Bei sich-Sein. Und bei Gott-Sein.
Die
Passionszeit gibt dieser Sehnsucht neue Nahrung.
Und
sie gibt ihr Raum.
Zeiten
der Stille, Zeit zur Besinnung.
Zeit,
in der wir spüren,
dass
unser Glaube größer ist, als wir dachten
und
dass Gott uns näher ist, als wir ahnten.
Um
es noch einmal anders
und
noch einmal mit Worten Rainer Maria Rilkes zu sagen:
"Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen
und in den großen gibst du groß dich hin.
Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,
dass sie so dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn."