Montag, 21. April 2025

Diaspora

Predigt am Ostermontag, 21. April 2025, über Jesaja 25,6-9

Der Herr Zebaoth bereitet allen Völkern auf jenem Berg ein fettes Mahl, ein Weingelage.
Das Fett ist markig und der Wein geläutert.
Und er lässt auf diesem Berg die Decke verschwinden,
die über allen Völkern ausgebreitet ist,
die Matte, die über alle Heiden geflochten war.
Er lässt den Tod verschwinden für immer.
Gott, der Herr, wischt die Tränen von allen Gesichtern.
Und die Erniedrigung seines Volkes beendet er auf der ganzen Erde,
denn der Herr hat es gesagt.
An diesem Tag sagt man: Sieh, da ist unser Gott.
Auf ihn hatten wir gehofft, und er hat uns geholfen.
Da ist unser Gott, er hat uns geholfen:
Lasst uns jauchzen und fröhlich sein über seine Hilfe.

Liebe Schwestern und Brüder,
ganz kleine Kinder verstecken sich,
indem sie sich die Decke über den Kopf ziehen:
Wenn sie nichts sehen können, denken sie,
sind sie auch nicht zu sehen.
Man nennt das Vogel-Strauß-Taktik,
weil der Strauß bei Gefahr angeblich den Kopf in den Sand steckt. 

Die Vogel-Strauß-Taktik beschreibt nicht nur
die noch nicht entwickelte Vorstellungskraft,
die fehlende Erfahrung, die kleine Kinder glauben lässt,
sie wären auf diese Weise nicht mehr zu sehen.
Sie ist auch eine mögliche
und nicht selten angewandte Handlungsoption -
deshalb hat sie auch diesen Namen bekommen,
obwohl man dem Vogel Strauß wahrscheinlich damit Unrecht tut.

So eine Decke kann also in doppelter Weise Erkenntnis verhindern:
Man versteckt sich darunter, damit man nicht gesehen wird.
Und man kann damit zugedeckt werden, damit man nichts sieht.
In Gangsterfilmen wird statt der Decke 
meistens ein Sack über den Kopf gezogen,
aber die Wirkung ist die gleiche.

Die Decke, die verhindert, dass man etwas sieht und dass man gesehen wird,
bezeichnet in der Bibel die Tatsache,
dass manche Gott kennen und viele nicht;
dass Gott manchen etwas bedeutet und vielen gleichgültig ist.

Die Decke symbolisiert dabei,
dass das Erkennen Gottes zwei Seiten hat:
Einmal ist es das aktive Verstecken unter der Decke.
Ein Desinteresse, das man ablegen muss, um Gott zu erkennen.
Auf der anderen Seite steht das passive Abgeschirmtwerden von Gott,
indem die Sicht auf ihn verdeckt wird,
und weil Gott sich nicht zu erkennen gibt.

Wenn dieses Bild, das in der Bibel mehrfach vorkommt, stimmt,
gehören zu einer Gottesbeziehung immer zwei:
Der Mensch, der die Beziehung zu Gott sucht.
Und Gott, der die Beziehung zulässt, indem er sich finden lässt.

Nun heißt es bei Jesaja, dass Gott die Decke wegnimmt,
die über den Völkern liegt.
Gott gibt sich den Völkern zu erkennen,
nicht nur seinem Volk Israel.
Das geschieht dadurch, dass sein Volk, in alle Winde zerstreut,
in der Diaspora unter den Völkern lebt.
Es lebt seinen Glauben, der es von den Mitmenschen absondert.
Es hat keine Nationalität, denn seine Heimat ist kein Land,
sondern ein Buch, das man überall hin mitnehmen kann: Die Bibel.

Beides, die Abgrenzung von den Mitmenschen durch das Befolgen der Gebote,
und die Vaterlandslosigkeit durch das tragbare Vaterland der Bibel,
setzte die Juden diversen Verdächtigungen aus.
Sie wurden erniedrigt, verfolgt, vertrieben, sogar ermordet.

Als Christen betrachten wir das Schicksal der Juden
aus der Distanz derer, die anders leben -
und haben doch zugleich großen Anteil an ihrem Schicksal
durch das, was die Kirche und was Christen
im Laufe der Jahrhunderte Juden angetan haben
an Erniedrigung, Ausgrenzung und Verfolgung.

Und die Distanz wird geringer.
Unsere Gesellschaft ist nicht mehr in der Mehrheit christlich,
sie hat allenfalls noch einen christlichen Anstrich.
Die Mehrheit der Bevölkerung hat mit dem Glauben nichts mehr am Hut. Das konnte man am Karfreitag und Karsamstag in Schwerin beobachten, als die Bäckereien und Cafés gefüllt waren
und Jugendliche bis spät in der Nacht durch die Straßen zogen,
statt wenigstens äußerlich den Karfreitag
und den Tag der Grabesruhe zu respektieren.

Auch die Distanz zum Staat ist den Christ:innen nicht fremd.
Zumindest die römisch-katholische Kirche
hat sich als Weltkirche, nie als nationale Kirche verstanden.
Sie ist nie ein so enges Bündnis mit dem Staat eingegangen
wie die evangelischen Landeskirchen.

Auch uns Protestanten bringt das Hören auf Gottes Wort
immer wieder in eine kritische Distanz zum Staat,
wenn es z.B. um Einwanderung oder Asylrecht geht,
in Fragen der Rüstung, des gesellschaftlichen Miteinanders
oder der gerechten Verteilung des Wohlstands.

Wir lernen gerade, was es bedeutet, Kirche in der Diaspora zu sein.
Darin können die Juden uns Vorbilder und Lehrmeister sein;
sie müssen ihren Glauben seit 2.000 Jahren so leben.
Nie hat ein Staat Rücksicht auf ihre Feiertage
oder auf den Sabbat genommen.
Nie hatten Rabbiner den Einfluss und das gesellschaftliche Ansehen,
das Bischöf:innen und Pastor:innen auch heute noch genießen.

Wir können vom Schicksal der Juden in der Diaspora auch lernen,
was passieren kann, wenn Christen eine Minderheit sind,
die nicht mehr durch gemeinsame Werte mit dem Staat verbunden ist.
Dann gelten auch unsere Traditionen als fremd und eigenartig,
wird uns unsere kritische Distanz zum Staat
nicht mehr als notwendiges Korrektiv,
sondern als Aufsässigkeit und Widerstand ausgelegt.

Einem solchen Schicksal könnte man zu entgehen versuchen,
indem man sich mit den jeweils Mächtigen gut stellt,
sich der jeweils herrschenden Meinung anpasst
und nicht auf seinen Prinzipien beharrt.
Doch dann wären die Christen kein Salz der Erde mehr, kein Licht der Welt.

Indem Juden in allen Teilen der Welt ihren Glauben lebten
und dadurch ihre Mitbürger in die Gemeinschaft mit Gott einluden,
hat Gott die Decke weggenommen,
die die Völker vor der Erkenntnis Gottes abschirmte.
Doch die Völker ziehen sich die Decke immer wieder über.
Menschen suchen immer wieder die selbst verschuldete Unmündigkeit
in dem Glauben, wenn sie die Wirklichkeit ignorieren, würde sie auch nicht existieren.

Auch die Auferstehung nimmt die Decke weg:
Auch dadurch ist Gott für alle Menschen sichtbar geworden.
Aber es gehören eben zwei zu einer Gottesbeziehung.
Gott hat die Decke weggenommen und lässt sich finden.
Mehr noch: Er lädt zu einem üppigen Gastmahl und Weingelage -
eine Einladung, die man schon wegen des reichlichen und köstlichen Essens
und der erlesenen Weine nicht ausschlägt.
Es liegt nun an den Geladenen,
ob sie sich eingeladen fühlen und die Einladung annehmen.

Wir haben die Einladung angenommen.
Wenn es alle anderen auch täten,
würde der Tod verschwinden und das Leid.
Es gäbe keine Erniedrigung von Menschen mehr,
die nicht der jeweils herrschenden Mehrheit,
der jeweils herrschenden Meinung entsprechen. 

Dann würden nicht mehr gekränkte Eitelkeit, Größenwahn,
Gier oder Skrupellosigkeit politischer Führer das Schicksal der Welt bestimmen,
müssten keine Kriege mehr geführt werden.
Es gäbe keine Diskriminierung,
weil man die eigene Kultur, die eigene Sprache,
die eigene Nation oder die Farbe der Haut nicht über alle anderen stellen
und die anderen herabsetzen müsste, um sich überlegen zu fühlen.

Das wird natürlich alles nie passieren.
Das weiß auch Jesaja: Er spricht von „diesem Tag”.
Damit meint er einen bestimmten Tag, aber der hat kein Datum.
Es ist ein Sankt-Nimmerleins-Tag,
ein Tag, der zu unseren Lebzeiten nicht eintreten wird.

Aber das stimmt so nicht.
Mit der Auferstehung Jesu hat Gott ein Datum gesetzt.
„Dieser Tag”, von dem Jesaja spricht, ist der Ostertag,
Von diesem Tag gilt, was Jesaja schreibt:
„Auf Gott haben wir gehofft, und er hat uns geholfen.”

Die Auferweckung Jesu hat den Tod besiegt.
Daran sehen wir, dass es möglich ist, den Tod verschwinden zu lassen.
Es ist möglich, dass Konflikte beigelegt werden, bevor sie eskalieren,
wenn beide Parteien wirklich an einer Lösung interessiert sind
und den Konflikt nicht zum Vorwand nehmen,
die andere Partei zu erpressen. 

Es ist möglich, dass einzelne Menschen, dass Politiker, Unternehmer, ganze Staaten
nicht nur an sich denken, nicht auf Kosten aller anderen groß werden wollen,
sondern das Wohl aller im Blick behalten.

Es ist möglich, weil wir mit der Auferstehung Jesu Leben gewonnen haben,
das der Tod nicht zerstören kann:
Wahres, sinnvolles, erfülltes, glückliches Leben - das ewige Leben.
Wer dieses Leben hat, braucht alles andere nur zu Not. 

Wir sind der Einladung Gottes gefolgt und haben das Leben gefunden.
Als Christinnen und Christen in der Diaspora wirken wir wie der Sauerteig,
von dem Jesus im Gleichnis sagt, dass er eine sehr große Menge Mehl durchsäuert.

Wir sind Salz der Erde und Licht der Welt.
Wir ziehen beharrlich an der Decke,
mit der unsere Mitmenschen sich vor der Wirklichkeit verschließen:
der Wahrheit über sich, und der Wahrheit über die Welt.

Wir ziehen beharrlich an der Decke, weil es Zeit ist, erwachsen zu werden
und die kindischen Spiele hinter sich zu lassen.
Wenn Gott will, reiben sich unsere Mitmenschen die Augen,
sehen sie sich um und finden Gott.
Dann wird es auch für sie Ostern.

Sonntag, 20. April 2025

Empathie

Predigt am Ostersonntag, 20. April 2025, über Johannes 20,11-18

Maria stand weinen draußen beim Grab. Wie sie nun weinte, beugte sie sich ins Grab vor und sieht zwei Engel in weiß dasitzen, einen am Kopf- und einen am Fußende, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Die sagte zu ihr: „Frau, warum weinst du?” Sagt sie zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggetragen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben. Als sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und sieht Jesus dastehen - aber sie wusste nicht, dass es Jesus ist. Jesus sagt zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie denkt, es ist der Friedhofswärter, und sagt zu ihm: Mein Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wohin du ihn gebracht hast, und ich will ihn holen. Sagt Jesus zu ihr: „Maria!” Sie wendet sich um und sagt zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! (das bedeutet: mein Lehrer). Sagt Jesus zu ihr: Lass mich los, ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich gehe zu meinem Vater und ihrem Vater, und zu meinem Gott und ihrem Gott. Maria Magdalena geht und berichtet den Jüngern: „Ich habe den Herrn gesehen!”, und das habe er ihr gesagt.

Liebe Schwestern und Brüder,

warum weinst du? Wenn man meint, hier will jemand neugierig wissen, was Maria zu Tränen rührt, missversteht die Frage gründlich. Wer gefragt wird: „Warum weinst du?”, spürt die Bereitschaft des Fragers, zuzuhören, hört das Angebot, sein Herz bei ihm auszuschütten und zu sagen, was einen bedrückt.

Wir sind auch neugierig. Gerade Eltern wollen von ihrem weinenden Kind zuerst wissen, ob es sich weh getan hat und wo, bevor sie es trösten. Denn es könnte sich ernstlich verletzt haben, und man müsste zuerst die Verletzung behandeln, bevor man die Tränen trocknen kann.

Bei Erwachsenen merkt man gleich, ob sie weinen, weil sie Schmerzen haben, oder weil ein Kummer sie schüttelt. Wer dann fragt: „Warum weinst du?”, ist bereit, sich Zeit für den Kummer des anderen zu nehmen, ihr, ihm zuzuhören und sich erzählen zu lassen, was das Herz so schwer macht.

Maria bekommt von zwei Engeln das Angebot, ihnen ihr Herz zu öffnen, und von Jesus, den sie für den Friedhofswärter hält. Aber sie ist zu gefangen in ihrer Trauer, zu geschockt von der schrecklichen Entdeckung, die sie gerade machen musste: Dass der Leichnam ihres Freundes fort ist. Mehrmals dreht sie sich um - so durcheinander, so irritiert ist sie. Wir können nachfühlen, wie es Maria geht. Man nennt das Einfühlungsvermögen, mit einem Fachbegriff: Empathie: Die Fähigkeit, sich in die Gefühle eines anderen hineinzuversetzen.

Die Empathie wird gerade von der Trump-Regierung abgeschafft. Ein Evangelikaler Theologe in den USA, Albert Mohler, hat in einem Podcast mit dem Autor Joe Rigney über die „Sünde der Empathie” gesprochen. Zu fühlen, was andere fühlen, sei eine therapeutische Kategorie, sagt er, keine moralische. Empathie würde nur bedeuten, niemals Nein sagen zu müssen, weil man die Sichtweise des anderen akzeptiert und sich in ihn hineinversetzt. Allein Mitleid und Mitgefühl seien moralische Kategorien, weil sie auf objektiven Kriterien beruhten.

Solche objektiven Kriterien könnten z.B. sein, dass jemand um eine Angehörige trauert, oder dass sich jemand schwer verletzt hat. Da ist Mitleid am Platze, auch Mitgefühl. Empathie wäre in diesem Zusammenhang gar nicht nötig, denn der Grund der Trauer liegt ja auf der Hand und teilt sich einem sofort mit.

Dass Mohler und die Regierung unter Trump der Empathie den Kampf ansagen, hat einen Grund: Es ist die Einwanderung, die die Regierung stoppen will. Die Empathie wird dafür verantwortlich gemacht, dass so viele Menschen in die USA flüchten, nach dem Motto: Wer auf Verständnis für seine Lage hoffen kann, macht sich auf den Weg. Wer weiß, dass es aussichtslos ist, geht gar nicht erst los.

Die Einwanderung ist der Anlass, die Empathie zu bekämpfen. Dahinter steht ein grundsätzlicher Konflikt, der die Gesellschaft der USA in zwei unversöhnliche Lager gespalten hat und der auch unsere Gesellschaft zu spalten droht: Es geht um die Deutungshoheit.

Wenn ein Kind hinfällt, sich dabei das Knie aufschlägt und dann weinen muss, ist das kein schwerer Unfall. Wird das Kind älter, merkt es gar nicht mehr, wenn es sich das Knie aufschlägt; das fällt erst den Eltern zuhause auf.

Wenn nun das Kind, das gerade hingefallen ist, weinend zu einem Erwachsenen gelaufen kommt, könnte der sagen: „Nun stell dich mal nicht so an, ist doch nichts Schlimmes passiert!” Der Erwachsene hätte damit recht - und das Kind nicht getröstet. Es hätte aber gelernt, dass man nicht weinen darf, wenn man sich weh tut. Der Erwachsene hat seine Sicht der Dinge, seine Deutungshoheit, durchgesetzt.

Ein einfühlsamer Erwachsener hätte vielleicht gesagt: „Du hast dich ja ganz schön erschreckt! Soll ich mal pusten?” Diese Antwort hätte den Schmerz des Kindes wahrgenommen und ernst genommen und ihm die Deutung seines Erlebnisses überlassen. Das Kind hätte gelernt, dass es sich seiner Tränen nicht zu schämen braucht.

Einmal entscheidet der Erwachsene für das Kind, wie der Fall des Kindes zu beurteilen ist, das andere Mal das Kind selbst. Die Entscheidung des Erwachsenen geht von dessen Sicht der Dinge aus: Der Sturz war nicht schlimm, es gibt keinen Grund zu weinen. Wenn man das Kind entscheiden lässt, nimmt man Rücksicht auf sein Empfinden, und das Kind lernt, seinen Gefühlen zu vertrauen.

Denn auch Gefühle sind ernst zu nehmende Kriterien, auch wenn man sie nicht objektiv von außen beurteilen kann. Das merkt man daran, welche Macht Gefühle über uns haben, und welches Unheil passiert, wenn man nicht fühlen will. Und tatsächlich können wir uns in einen anderen Menschen einfühlen, wenn wir uns auf ihn, auf sie einlassen und nicht schon im Vornherein unser Urteil über sie gefällt haben.

Das bedeutet nicht, wie Albert Mohler unterstellt, dass jemand, der einfühlsam ist, niemals Nein sagt. Wenn jemand sagt: „Ich schaffe das nicht”, würde Albert Mohler antworten: Das beurteile ich. Und wenn ich meine, du schaffst das, dann wirst du das auch schaffen. Aus empathischer Sicht würde man akzeptieren, was der andere sagt - dann würde man ihn aber auch nicht machen lassen, was er sich nicht zutraut.

Mit seinen Mitmenschen empathisch zu sein bedeutet nicht, sie tun zu lassen, was sie wollen. Ebenso bedeutet es nicht, keine Grenzen zu kennen oder die Grenzen für alle zu öffnen. Es bedeutet, den anderen zu respektieren, seine Sicht der Dinge und seine Gefühle ernst zu nehmen und sich nicht anzumaßen, man wüsste über den anderen besser Bescheid als er selbst.

Jesus hat das auf die griffige Formel gebracht: „Alles, was ihr wollt, dass die Leute euch tun sollen, das tut ihnen auch!” (Matthäus 7,12). So, wie Jesus seine Goldene Regel formuliert, zwingt sie geradezu zur Empathie. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, sie zu formulieren: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!” Das ist eingängiger, und es reimt sich auch noch.

Wo liegt der Unterschied zwischen beiden? Jesus setzt mit seiner Goldenen Regel beim Mitmenschen an: „… was die Leute euch tun sollen …”, die andere Formel bei mir selbst: „Was du nicht willst, das man dir tu …” Was ich nicht will - dafür ist keine Empathie nötig. Ich soll ja nur unterlassen, was ich selbst nicht erleiden möchte.

Die Goldene Regel setzt bei den Mitmenschen an - und auf deren Verhalten habe ich keinen Einfluss. Ich bin ihnen quasi ausgeliefert. Denn ob meine Mitmenschen das tun, was ich mir von ihnen wünsche, ist ihre Entscheidung - selbst, wenn ich dasselbe bereits für sie getan habe.

Es geht also bei der Frage der Deutungshoheit am Ende darum, ob der Stärkere, der Mächtigere über den Schwächeren entscheidet, was er tun, denken und fühlen soll. Oder ob man in gegenseitigem Respekt anerkennt, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, die in einem fairen Dialog miteinander ausgehandelt werden müssen.

Maria ist auf einfühlsame, empathische Engel gestoßen und auf einen empathischen Friedhofswärter, der sich als ihr geliebter Lehrer entpuppte. Sie hat sich entschieden, ihr Herz nicht wildfremden Engeln auszuschütten. Doch deren Einfühlsamkeit hat ihre Tränen getrocknet. Und die Tatsache, dass Jesus, ihr Rabbuni, lebt, hat ihre Trauer in Freude verwandelt. 

Samstag, 19. April 2025

gespannte Erwartung

Ansprache in der Osternacht, 19. April 2025


Liebe Gemeinde der Osternacht,


gerade wurde der Flügelaltar wieder geöffnet,

den wir am Gründonnerstag Abend geschlossen hatten.

Ganz oben rechts ist jetzt wieder zu sehen,

was im Osterevangelium zu hören war:

Dort sind die Wächter am Grab Jesu, die wie tot daliegen.


Doch es fehlt noch was. Es fehlt so einiges:

Es sind keine Frauen am Grab zu sehen und keine Engel.

Auch die Siegel am Grab sind noch intakt -

Zeichen, dass der Stein noch vor dem Eingang liegt.

Die Auferstehung steht erst bevor.

Christus steigt gerade empor aus dem Reich des Todes

mit den Menschen, die er aus der Gewalt des Todes befreit hat.

Wir befinden uns in dem Zwischenraum

zwischen den beiden Sätzen des Glaubensbekenntnisses:

Hinabgestiegen in das Reich des Todes und

Am dritten Tage auferstanden von den Toten.

Noch ist es nicht soweit, noch ist Christus nicht auferstanden.


Das Altarbild läuft auf den Moment der Auferstehung zu,

ohne ihn zu erreichen.

Dadurch entsteht eine gespannte Erwartung,

eine Spannung, die wir auch in der Osternacht erleben,

wenn wir von der Dunkelheit ins Licht gehen.

Eine Spannung, die noch anhält,

obwohl wir bereits das Osterevangelium gehört haben.

Weil wir es noch nicht hinaussingen durften: Christ ist erstanden!


Das Altarbild läuft auf die Auferstehung zu,

aber es zeigt sie nicht.

Weil man sie nicht darstellen kann.

Denn sie macht ja alles neu, die Menschen und die Erde.

Etwas, das erst noch aussteht und von dem wir nicht wissen,

nicht einmal erahnen können, wie es aussehen wird,

das kann man nicht darstellen - allenfalls seine Verpackung:

das noch versiegelte Grab, das jeden Augenblick aufbricht.


Das ist ein bisschen wie Weihnachten,

kurz vor der Bescherung,

wenn man noch nicht weiß, was in den Päckchen ist.

Um dieser gespannten Erwartung willen

hielten wir den Altar geschlossen.

Wie Jesus drei Tage im Grab verborgen war,

so sollte auch das Altarbild drei Tage verborgen sein.


Aber warum war der Altar ausgerechnet an dem Tag geschlossen,

der darauf dargestellt ist: dem Karfreitag?

Weil man nicht darstellen kann, was an Karfreitag eigentlich geschieht.

Ja, Jesus wird gedemütigt, geschlagen, gequält

und stirbt unter bestialischen Schmerzen am Kreuz.

Darin ist er nicht allein.

So sterben jeden Tag unzählige Menschen auf unserer Erde:

gedemütigt, geschlagen, gequält,

unter bestialischen Schmerzen zu Tode gebracht.


Wenn wir uns ausmalen,

was Christus am Kreuz erlitten hat, und wie er gelitten hat,

fühlen wir mit allen Menschen, die heute leiden müssen.

Christus hat durch sein Leiden am Kreuz

auch diese Seite des Menschseins geteilt:

Hat erlitten, wie bösartig, brutal und gemein Menschen sein können,

und wie schrecklich es ist, ihrer Willkür ausgeliefert zu sein.


Aber am Karfreitag geschieht noch mehr:

Jesus erleidet nicht nur die Gemeinheit und Willkür,

er trägt sie ans Kreuz.

Er trägt stellvertretend für uns, was uns belastet:

das Böse, das wir erlitten, und das Böse, das wir getan haben,

um beides von unseren Schultern zu nehmen.

Das kann man nicht darstellen,

ebensowenig wie die Auferstehung.

Das kann man nur im Glauben begreifen und annehmen.


Im Glauben ist die Auferstehung eine Macht,

die uns Hoffnung gibt und uns beflügelt.

Wir sind gelähmt durch die Angst vor Leid und Schmerzen,

die Angst vor dem Tod.

Wir sind gelähmt durch die Erfahrung, dass nicht das Gute siegt,

sondern die Berechnung, die Dreistigkeit,

die Unmenschlichkeit, der Egoismus.

Wir sind gelähmt durch viel zu viele Probleme -

man weiß nicht, wo man anfangen soll,

man wird sie niemals alle lösen können,

und für manche Lösung ist es vielleicht schon zu spät.


Die Auferstehung ist Gottes Versprechen,

dass sich etwas ändern kann und ändern wird.

Dass wir keine Angst vor Veränderung haben müssen,

weil Gott uns nicht verloren gehen lässt.

Dass es nicht zu spät ist, den Klimawandel aufzuhalten,

die Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden,

Frieden in der Welt zu schaffen,

weil die Kraft dazu nicht unsere ist, sondern von Gott kommt.

Gott hat die Macht des Bösen gebrochen.

Das zeigt uns das Altarbild:

Der gefräßige Rachen des Todes ist mit einer Maulsperre versehen.

Er kann sich nicht mehr schließen, der Rachen.

Er muss die Gestorbenen frei geben.


Das Altarbild zeigt uns auch das Böse, den Teufel,

Inbegriff all dessen, was uns Angst macht.

Es zeigt ihn uns gefesselt, er kann sich nicht mehr rühren.

Und ein kleines Kerlchen, das unterm Hintern eines Teufels hockt,

hält sich die Nase zu - weil der Teufel wohl gerade gepupst hat.

Ein Furz - der einzige Schrecken, den der Teufel noch verbreiten kann.

Das Böse, das sich so mächtig gibt,

das uns ängstigen und einschüchtern will -

nach der Auferstehung Christi ist es nur noch ein peinlicher Geruch.


Inmitten der grausamen, schmerzerfüllten Szenerie des Karfreitag

macht sich das Altarbild lustig über das, was uns den Mut nimmt,

nimmt es auf die Schippe und nimmt ihm so seine lähmende Macht.

Es versucht, uns zum Schmunzeln, zum Lachen zu bringen,

damit wir der Angst, dem Teufel und dem Tod ins Gesicht lachen

und voller Freude jubelnd singen: Christ ist erstanden!

Freitag, 18. April 2025

Verantwortung

Predigt am Karfreitag, 18. April 2025, über Johannes 19,16-30

Pilatus übergab Jesus den Juden, damit er gekreuzigt würde. Sie nahmen Jesus mit sich. Er trug sein Kreuz selbst und ging hinaus zur sogenannten „Schädelstätte”, die auf Hebräisch Golgatha genannt wird. Dort kreuzigten sie ihn, und mit ihm zwei andere auf beiden Seiten, in der Mitte Jesus. Pilatus schrieb auch eine Aufschrift und befestigte sie am Kreuz. Es stand geschrieben: Jesus der Nazarener, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele von den Juden, denn der Ort, wo Jesus gekreuzigt worden war, lag nahe bei der Stadt. Außerdem war sie auf Hebräisch, Latein und Griechisch geschrieben. Die Hohenpriester der Juden sprachen daraufhin zu Pilatus: Schreib nicht: „Der König der Juden,” sondern, dass er gesagt hat: „König der Juden bin ich.” Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.

Als die Soldaten Jesus kreuzigten, nahmen sie seine Kleidung und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen, und das Untergewand. Das Untergewand aber war ohne Naht, in einem Stück gewebt. Da sagten sie zueinander: Das wollen wir nicht zerschneiden, sondern lasst uns darum würfeln, wem es gehören soll, damit die Schrift erfüllt würde, die sagt: Sie haben meine Kleidung unter sich geteilt und über das Kleidungsstück den Würfel geworfen. Das taten die Soldaten.

Es standen aber beim Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau von Klopas, und Maria, die Magdalenerin. Als Jesus seine Mutter sah und den Jünger, den er liebte, bei ihr stehen, sagt er zur Mutter: Frau, da ist dein Sohn. Dann sagt er zum Jünger: Da ist deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass bereits alles geschafft war, sagt er, damit die Schrift erfüllt würde: Ich habe Durst. Dort war ein Gefäß voll Essig. Sie steckten einen mit Essig gefüllten Schwamm auf einen Ysop und näherten ihn seinem Mund. Als Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist geschafft! Und er neigte das Haupt und gab den Geist auf.

Liebe Schwestern und Brüder,

den ersten Marathonlauf der Geschichte absolvierte angeblich ein griechischer Soldat im Jahr 490 vor Christus. Nach der Schlacht von Marathon lief er direkt vom Schlachtfeld nach Athen, um seinen Mitbürgern den Sieg über die Perser zu melden. „Nenikékamen!”, soll er ausgerufen haben, „Wir haben gesiegt!”, und danach vor Erschöpfung tot umgefallen sein.

Ähnlich klingt das letzte Wort, das Jesus am Kreuz sagt: „Tetélestai!” - „es ist geschafft!” Luthers Übersetzung lautet: „Es ist vollbracht!” Aber wer einen Marathon gelaufen ist, wer die höllischen Qualen am Kreuz erleiden musste, würdigt nicht die gewaltige Aufgabe, die er bewältigt hat, und benutzt dafür auch keine wohlgesetzten Worte; der ist nur noch froh, dass die Qual endlich vorbei ist.

Jesus „gab den Geist auf”, das steht wirklich so da, im griechischen Text des Johannesevangeliums. Nie würden wir von einem Menschen, der gestorben ist, sagen: „Der hat den Geist aufgegeben.” Luther überträgt die Wendung ins würdevolle „und verschied”. Aber die Formulierung ist nicht so herabwürdigend gemeint, wie wir sie heute hören: Der Geist, den Jesus aufgab, war der Lebensatem, den Gott jedem Menschen einhaucht. Jesus gab sein Leben dem zurück, von dem er es empfangen hatte: „parédoken to pneuma” - er übergab Gott seinen Geist.

parédoken - dieses Wort steht auch am Anfang unseres Abschnittes: Pilatus übergab Jesus den Juden zur Kreuzigung. Er übergab seine Verantwortung für Jesus an andere. Damit war er das Problem los, das die Verurteilung eines Unschuldigen zum Tode ihm bereitete.

Wir stellen uns vor, dass in früheren Zeiten ein Menschenleben nicht so viel bedeutet haben muss wie heute, und dass Machthaber wie Pilatus keine Skrupel hatten, einen ihnen unbequemen Menschen ermorden zu lassen. Aber zu allen Zeiten wurde ein Mensch von jemandem geliebt, für die oder den sein Tod eine Katastrophe war; zu allen Zeiten war ein Menschenleben unendlich kostbar. Ein Mord war auch unter Pilatus ein Kapitalverbrechen, weshalb Barrabas im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartete.

Pilatus übergibt Jesus. Für das, was nun mit Jesus geschieht, will er nicht verantwortlich sein, denn er weiß, dass es Unrecht ist. Doch er wird diese Verantwortung nicht los. Es lag in seiner Macht, es war seine Aufgabe, das Leben Jesu zu schützen. Und darin hat er kläglich versagt. Seinem Amt als Statthalter ist er damit nicht gerecht geworden.

Ich will hier kein Pilatus-Bashing betreiben; das haben fromme Gläubige schon in der Antike getan und ihm zur Strafe dafür, dass er Jesus kreuzigen ließ, die schlimmsten Höllenqualen angedichtet.

Ich will den Mechanismus aufzeigen, durch den Verantwortung sich verflüchtigt, wenn Menschen, die Macht über das Leben anderer haben, diese Macht nicht verantwortlich wahrnehmen.

Nicht immer sind Hass oder Rache die Ursache dafür, wie sie aktuell die deutschen Ortskräfte in Afghanistan bedrohen. Wer dort mit den Deutschen zusammengearbeitet hatte, steht für die Taliban und die, die von ihnen profitieren, auf einer schwarzen Liste und kann in Lebensgefahr geraten. Viel häufiger führen Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit dazu, dass Verantwortung für andere abgeschoben oder gänzlich geleugnet wird.

Um sich dieser Verantwortung bewusst zu werden, muss man sie sich zuerst eingestehen. Mann muss sich bewusst werden, dass man Macht über andere Menschen hat. Bei den eigenen Kindern, bei Menschen, die einem anvertraut sind, ist das leicht einzusehen. Aber wieso sollte man z.B. Macht über die eigenen Eltern haben? Diese Macht erwächst einem, wenn die Eltern abhängig werden von Unterstützung, Zuwendung, Besuchen und Hilfe. Die Abhängigkeit anderer von meinen Entscheidungen ist ein Merkmal dafür, dass ich Macht über sie habe und damit für sie verantwortlich bin.

Noch schwerer ist diese Verantwortung nachzuvollziehen gegenüber Leuten, die in ganz anderen Gegenden der Welt leben, denen man nie begegnet ist und nie begegnen wird. Da muss man erst die geschichtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge kennen und begreifen, mit denen unsere Vorfahren oder wir selbst Macht über diese Leute erlangt haben.

Man muss sich also die Mühe machen, über das Verhältnis zu anderen Menschen nachzudenken, um herauszufinden, dass man für sie verantwortlich ist. Warum sollte man diese Mühe auf sich nehmen? Man kann sagen: Je größer der Abstand zu einem anderen Menschen - der räumliche Abstand, oder der gefühlsmäßige, desto leichter fällt es, die Verantwortung zu ignorieren, die man für einen Menschen hat.

Auch Jesus gibt Verantwortung ab, bevor er den Geist aufgibt: Er macht den Jünger, den er liebt, zum Sohn seiner Mutter und vertraut sie ihm damit an. Und der Jünger, der ihm besonders nahe stand, wird seiner Mutter anvertraut und damit in die Familie aufgenommen. Was unterscheidet sein Verhalten von der Verflüchtigung der Verantwortung, die wir erleben und praktizieren?

Jesus gibt tatsächlich Verantwortung ab - weil er sie nicht mehr wahrnehmen kann: Er weiß, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht. Insofern übernimmt er Verantwortung, weil er sich darum sorgt, wie es für seine Mutter und für seinen Freund nach seinem Tod weitergehen kann.

Jesus verweist Maria und den Lieblingsjünger aufeinander. Sie sollen füreinander da sein. So werden die beiden zu einem Vorbild für uns. Wir sind aufeinander angewiesen - das macht unser Menschsein aus, es ist Teil unserer DNA. Man hört das nicht gern, und man hat das nicht gern, aber es ist sinnlos, es zu leugnen.

Wir sind auch deshalb aufeinander angewiesen, weil wir alle miteinander vernetzt sind - nicht erst durch das Internet. Auf unserer Erde hängt alles mit allem zusammen. Eine Veränderung hier hat Auswirkungen an ganz anderer Stelle. Wir tragen darum nicht nur Verantwortung für unsere Mitmenschen, sondern auch für die Welt, in der wir leben. Darum nennen wir sie Gottes Schöpfung. Damit ist eine Verantwortung bezeichnet, die Gott, der Schöpfer, auf uns übertragen hat: Wir sollen die Erde bebauen und bewahren. Man kann diese Verantwortung abstreiten oder leugnen, aber damit wird man sie nicht los.

Jesus hat seine Verantwortung für Maria und den Lieblingsjünger nicht einfach an den Nagel gehängt. Er sorgte für sie, indem er sie aneinander wies. Jesus tat noch mehr: Er übernahm für uns und alle Menschen Verantwortung, als er als Unschuldiger am Kreuz die Folgen unseres Handelns trug.

Die Verantwortung für sein Handeln übernimmt niemand gern, wenn etwas schief gegangen ist und man nun seinen Kopf dafür hinhalten muss. Manchmal können die Folgen so gravierend sein, dass man sie gar nicht übernehmen kann, ohne daran zu zerbrechen oder zugrunde zu gehen.

Dafür gibt es Versicherungen: Sie verhindern, dass ein Leben zerstört wird, weil man z.B. durch einen Autounfall einen unbezahlbaren Schaden verursacht, einen Menschen schwer verletzt hat. So gerieten in früheren Zeiten Menschen in Schuldknechtschaft oder wurden als Sklaven verkauft, weil sie den Schaden nicht ersetzen konnten, den sie verursacht hatten.

Versicherungen nehmen uns die materiellen Folgen ab, sodass wir unser Leben weiterleben können. Die seelische Belastung, das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen deckt keine Versicherung der Welt ab. Man wird ein Leben lang davon niedergedrückt.

Diese seelische Last hat Jesus auf sich genommen und auf das Kreuz getragen. Er hat sie stellvertretend für uns erlitten. Gott verurteilt uns nicht für das, was wir getan haben. So können wir Verantwortung für unsere Fehler übernehmen und die Konsequenzen tragen. Wenn wir es bereuen, bestimmt das, was wir taten, nicht mehr darüber, wer wir sind, Wir können und dürfen hier und jetzt sofort anders handeln, anders und Andere sein.

Jesus übernahm die Verantwortung für unsere Fehler und die aller Menschen, für alle Schuld, alles Versagen, alle Verantwortungslosigkeit. Eine riesige Last, die er für uns am Kreuz trug. Da ist sein letzter Seufzer nur allzu verständlich: „Tetélestai!” - „es ist geschafft!” 

Donnerstag, 17. April 2025

Verkündigung der Liebe

Predigt am Gründonnerstag, 17. April 2025, über 1.Korinther 11,23-26

Ich habe vom Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, nahm Brot, sprach ein Dankgebet, brach es und sagte: „Dies ist mein Leib für euch. Das tut zum Gedenken an mich.” Ebenso auch den Becher nach dem Essen, wobei er sagte: „Dieser Becher ist der neue Bund, durch mein Blut gestiftet. Das tut, sooft ihr trinkt, zum Gedenken an mich.” Denn sooft ihr von dem Brot esst und den Becher trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.

Liebe Schwestern und Brüder,

in der Nacht vor seiner Verhaftung aß Jesus mit seinen Jüngern gemeinsam zu Abend. Er wusste, dass dies seine letzte Mahlzeit, ein letztes Zusammensein mit seinen Freunden war: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes,” prophezeite er ihnen. Und seine Jünger? Ahnten sie etwas? Oder war es für sie ein Passamahl, wie sie schon viele mit Jesus gefeiert hatten?

In den Worten, die Paulus uns überliefert, spricht es Jesus zwar nicht direkt aus … aber man hört doch deutlich heraus, dass Jesus seinen Tod meint, wenn er das Brot mit seinem Körper und den Wein im Becher mit seinem Blut vergleicht. Und seine Jünger auffordert, sich beim Brechen und Teilen des Brotes und beim Trinken des Weins an ihn zu erinnern.

Man ist versucht, sich diese letzte Mahlzeit auszumalen. Wie wohl der Saal im Obergeschoss aussah, den seine Jünger auf wunderbare Weise fanden, indem sie einem Menschen folgten, der einen Krug mit Wasser trug; er führte sie zu dem Haus, in dem schon alles vorbereitet war. Auf ähnliche Weise fand Abrahams Knecht die zukünftige Frau Isaaks, Rebekka. Hier ist Gottes Hand im Spiel, will das sagen, das hat eine tiefe Bedeutung, die über das eigentliche Mahl hinausgeht.

Das beeinflusst die Darstellung der Evangelisten: Sie erzählen nichts vom Abschied Jesu von seinen Jüngern. Sie malen nicht aus, wie sich Jesus gefühlt haben muss - die Wehmut, die Traurigkeit, die sich unweigerlich einstellen, wenn man weiß, dass man sich nicht wieder sieht. Sie malen auch nicht aus, was die Jünger empfinden - das hat Leonardo da Vinci mit seinem berühmten Gemälde getan. Die Evangelisten erzählen die „Ätiologie”, die Entstehungsgeschichte der Mahlfeier, die sie selbst in ihren Gemeinden gefeiert hatten.

Auch Paulus hat nicht Jesus und seine Jünger vor Augen, wenn er dessen Worte über Brot und Wein zitiert, sondern die Abendmahlsfeiern, die er selbst kennengelernt und dann in seinen Gemeinden gefeiert hat. Die Sätze, die Jesus spricht, sind der besonderen Situation dieses Abends vor seiner Verhaftung entrissen und haben Allgemeingültigkeit erlangt.

Normalerweise ist es genau andersherum: Sätze, die in einem bestimmten Moment der Geschichte von besonderen Personen gesagt wurden, sind für immer mit diesem Augenblick verbunden -
und mit dem Menschen, der sie gesagt hat. Wie Martin Luthers trotziges „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.” auf dem Reichstag zu Worms; John F. Kennedys Bekenntnis „Ich bin ein Berliner,” oder Ronald Reagans theatralisches „Mr. Gorbachew, tear down this wall!”

Die Abendmahlsworte Jesu verbinden also nicht den Menschen Jesus mit einem bestimmten Moment der Geschichte - seinem letzten Beisammensein mit seinen Jüngern. Sondern sie deuten einen Brauch, den die christlichen Gemeinden zur Erinnerung an Jesus in ihren Gottesdiensten pflegten.

Diesen Brauch hatten die Christen mitgebracht, die keine jüdischen Wurzeln hatten, sondern Römer waren. Bei ihnen war es üblich, die Toten auf den Friedhöfen und in den Katakomben mit einem Picknickkorb zu besuchen. Man aß und trank Brot und Wein an ihrem Grab „zu ihrem Gedächtnis.” Beim Essen erinnerte man sich an die Gestorbenen, sprach über sie - natürlich nur Gutes -, erinnerte sich an Geschichten über sie und Anekdoten. So waren die Toten gegenwärtig. Die kraft- und lebenspendende Mahlzeit half dabei, die Kluft zwischen den Toten und den Lebenden zu überbrücken. Gleichzeitig half sie den Lebenden, es in der Nähe der Toten auszuhalten.

Beim Abendmahl wird aus der Erinnerung an einen Gestorbenen, der die römischen Totenmahle dienten, die Vergegenwärtigung dessen, was Jesus durch seinen Tod bewirkte. „Sooft ihr von dem Brot esst und den Becher trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt,” schreibt Paulus. Das Abendmahl ist also eine persönliche Vergewisserung für jede:n einzelne:n Glaubige:n, dass Jesus für sie und ihn ganz persönlich sein Leben gab. Und es ist Verkündigung: Es spricht zu allen, die es erleben, von dem, was Jesus für uns tat:

Jesus gab seinen Leib. Jemand riskiert sein Leben, um eine:n andere:n zu retten - so würden wir das wohl beschreiben. Aber dann wäre nicht verständlich, warum Jesus diese Hingabe mit dem Brot verbindet, das seine Jünger essen.

Das Brot ist ein Lebensmittel - im wahrsten Sinne des Wortes. Darum sprechen wir vom „täglichen Brot” und meinen damit alles, was wir zum Leben brauchen. Die Geschichte von der Speisung der 5.000 stellt dar, wie Jesus das mit dem Brot verstanden hat: mit 5 Gerstenbroten und 2 Fischen machte er 5.000 Menschen satt. Das Wunderbare ist, dass hier so viele Menschen satt wurden, weil sie miteinander teilten. Das kann nur die Liebe bewirken.

Diese Liebe hat Jesus gelebt und gelehrt. In der Liebe kommt Gottes Wirklichkeit, das Reich Gottes, den Menschen nah. Die Liebe ist aber kein abstrakter Begriff wie das Gute oder das Sein. Die Liebe zeigt sich als Kraft zwischen Zweien, in Beziehungen, im Tun dessen, was nötig oder geboten ist. Und die Liebe ist lebenswichtig. Jeder Mensch braucht sie, ebenso sehr wie das tägliche Brot.

Jesus setzte sein Leben, seinen Leib ein und bewies, dass die Liebe stärker ist als Hass und Gewalt, als Bösartigkeit und Heimtücke, Gleichgültigkeit und Kälte. Wenn wir beim Abendmahl das Brot miteinander teilen, vergewissern wir uns der Liebe, mit der Christus uns liebt. Und dass sie eine Kraft ist, die uns erfüllt und nicht weniger wird, wenn man sie austeilt - so, wie 5 Gerstenbrote und 2 Fische 5.000 Menschen satt machten.

Jesus gab sein Leben, gab sich hin im Tod am Kreuz. Damit begründete er einen neuen Bund, eine neue Möglichkeit einer Beziehung mit Gott: Neben der nach wie vor bestehenden Möglichkeit einer Beziehung durch die Übernahme der Gebote - das, was Paulus und nach ihm Luther das „Gesetz” nannten -, gibt es die Möglichkeit, sich Gottes Liebe zu überlassen - das „Evangelium” bei Paulus und Luther.

Die Liebe erweitert den Bund Gottes mit seinem Volk um einen Bund Gottes mit allen Menschen. Gottes Liebe ist universell: Sie gilt allen Menschen. Sie lädt jeden Menschen ein, diese Liebe für sich anzunehmen. Und sie hat einen Namen: Jesus Christus. Wenn wir beim Abendmahl den Kelch miteinander teilen, erinnern wir einander daran, dass wir zu Christus gehören und dass alle Menschen in diese Gemeinschaft mit eingeladen sind.

„Sooft ihr von dem Brot esst und den Becher trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. Das Abendmahl verkündigt den Tod Jesu, nicht seine Auferstehung. Indem er den Tod erlitt, hielt Jesus an der Liebe bis zum Ende fest und erwies sich dadurch als der Christus.

Mit jedem Abendmahl werden wir daran erinnert, dass wir von Gott geliebte Menschen sind. Mit jedem Abendmahl erinnern wir uns, dass die Liebe unser Weg ist und dass wir der Macht der Liebe vertrauen können. Möge diese Macht der Liebe mit euch sein. 

Sonntag, 13. April 2025

reden und hören wie eine Schülerin

Predigt am Sonntag Palmarum, 13. April 2025, über Jesaja 50,4-9


Der Herrgott lehrte mich Schülersprache,
so weiß ich ein Wort für die Erschöpften. Er weckt mich
am Morgen. Am Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich wie Schüler höre.
Der Herrgott öffnete mir das Ohr,
und ich sträubte mich nicht, wich nicht zurück.
Meinen Rücken bot ich den Schlägern dar und meine Wange den Bart-Raufern.
Ich verhüllte mein Gesicht nicht vor Beleidigungen und Spucke.
Der Herrgott hilft mir; darum werde ich mich nicht schämen müssen.
Darum mache ich mein Gesicht steinhart und weiß: ich werde nicht beschämt.
Mein Anwalt ist nah, wer will mit mir streiten? Tretet ruhig zusammen vor!
Wer will gegen mich prozessieren? Der trete gegen mich an!
Sieh, der Herrgott hilft mir, wer will mich verurteilen?
Sieh, sie alle zerfallen wie Kleidung, die von Motten zerfressen wurde.

(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

„von wem redet der Prophet,
von sich selber, oder von jemand anderem?“
(Apg 9,34)

Diese Frage eines äthiopischen Finanzministers
wird heute noch genau so gestellt wie damals,
als der Kämmerer aus Äthiopien sich vom Apostel Philippus
das Buch des Propheten Jesaja auslegen ließ.
Bis heute ist sich die Forschung nicht einig,
wer das „Ich” in den sog. „Gottesknechtsliedern” bei Jesaja ist,
zu denen auch der heutige Predigttext gehört.

Aber ehe auch wir darüber spekulieren,
wer da spricht, lassen Sie uns anschauen,
was von diesem Gottesknecht erzählt wird.
Vielleicht haben wir dann eine Ahnung,
wer dieser Knecht sein könnte.

I

Dem Gottesknecht wird übel mitgespielt.
Er wird auf den Rücken geschlagen, und ihm wird der Bart gerauft.
Den Bart gerauft zu bekommen ist unangenehm und schmerzhaft.
Doch so etwas passiert nicht bei einem Raubüberfall.
Wer den Bart gerauft bekommt, soll damit gedemütigt werden.
Der Gottesknecht fiel also nicht unter die Räuber,
er wurde nicht verhauen,
sondern musste eine demütigende Strafe über sich ergehen lassen.
So wie der Prophet Jeremia,
der über Nacht in den Block eingeschlossen wurde (Jer 20,2).
Oder wie Paulus, der folgende Bestrafungen aufzählt:
„Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen;
ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden.”
(2.Kor 11,24f)

Jeremia und Paulus wurden wegen ihrer Predigten bestraft.
Sie sagten, was die Obrigkeit nicht hören wollte
und was auch die Leute nicht hören sollten.
Wie in autoritären Staaten Regimekritiker und Dissidenten
mit Stöcken geprügelt, verhaftet und eingesperrt werden,
sollten auch Jeremia und Paulus, soll auch der Gottesknecht
eingeschüchtert und mundtot gemacht werden.
Die Schläge, die Demütigungen sollen ihn entmutigen,
ihn mürbe und müde machen,
sodass er schließlich das Predigen aufgibt.

Aber der Gottesknecht ist alles andere als müde.
Er ist hellwach.
Gott weckt ihn jeden Morgen aufs Neue.
Nicht, damit er nicht verschläft. Das Wecken bedeutet:
Der Gottesknecht findet jeden Morgen wieder Kraft und Lebensmut,
um seine Botschaft zu verkündigen -
trotz aller Drohungen und Demütigungen,
seinen Gegnern zum Ärger
und seinen Zuhörer:innen zu ständiger Provokation.

II

Gott weckt die Lebensgeister seines Knechtes,
und er weckt ihm das Ohr.
Heute würden wir sagen: Er „sensibilisiert” ihn.
Denn wie beim Sehen gilt auch beim Hören:
Man hört nur, was man kennt.
Wenn man nicht weiß, worauf man hören soll,
geht das, was man hören muss, unter.

Da gibt es die Geschichte von einem, der auf dem Land lebt
und seinen Freund in der Großstadt besucht.
Als sie beide zusammen durch die Straßen schlendern,
macht er seinen Freund auf ein Geräusch aufmerksam,
das aus einer Hecke kommt: „Hör mal,” sagt er, „eine Grille!”
Der Freund staunt: „Wie gut du hören kannst!
Ich habe die Grille bei dem Straßenlärm nicht hören können!”
Der Freund sagt: „Das hat nichts mit meinem Gehör zu tun.
Pass mal auf!” Mit diesen Worten wirft er eine Münze auf das Pflaster.
Sofort drehen sich mehrere Leute nach dem Klang der Münze um,
einer hebt sie schnell auf und steckt sie ein.

Gott weckt also das Ohr seines Knechtes,
um ihn zu sensibilisieren für das, was er hören soll.
Und nun hört der Knecht, wie Schüler hören.
Aber sind Schüler:innen sensible Hörer:innen?
„Du hörst wie ein Schüler!” - das würde ich nicht als Kompliment empfinden.
Denn Schüler:innen gelten im besten Fall als selektive Hörer:innen:
Sie hören nur, was sie wollen - und wenn sie wollen.
Wenn der Stoff spannend ist, oder „klausurrelevant”,
dann hören sie vielleicht aufmerksam zu.
Ansonsten schalten sie die Ohren auf Durchzug.

Anders verhält es sich, wenn einem etwas erklärt wird,
was man dann selbst ausführen soll -
als Lehrling etwa, oder in der Fahrschule.
Da passt man genau auf, um es nicht zu vermasseln.
Ich denke, dieses Hören ist gemeint:
Der Gottesknecht hört auf Gottes Wort,
das er anschließend weitersagen soll.
Wer Gottes Wort verkündigt,
muss sich damit auseinandersetzen, darüber nachdenken.
um nicht die eigenen Interessen und Ansichten zu vertreten,
sondern Gott die Ehre zu geben.

III

Gott öffnet seinem Knecht das Ohr, sodass er hört, wie Schüler hören.
Und er gibt ihm die Sprache der Schüler.
Man könnte dabei an Martin Luther denken,
der bei seiner Übersetzung der Bibel „dem Volk auf’s Maul schauen” wollte.
Aber nichts ist so peinlich wie ein Erwachsener,
der versucht, wie Jugendliche zu reden.

Trotzdem haben Schüler:innen eine Art zu sprechen,
die auch Erwachsenen gut zu Gesicht stehen würde.
Wenn Schüler:innen sich im Unterricht melden,
geschieht das selten im Brustton der Überzeugung.
Meistens klingt das, was sie sagen, wie eine Frage -
weil sie sich nicht sicher sind, ob es richtig ist.
Eine Schülerin weiß mit Sokrates, dass sie nichts weiß.
Erst mit zunehmendem Alter kommt die Selbstsicherheit dessen,
der auf alles eine Antwort hat, alles besser weiß.

Der Gottesknecht, der wie ein Schüler redet, ist ein Lernender und Fragender.
Dadurch hat er ein Wort für die Erschöpften.
Nicht, indem er ihnen einen Ratschlag gibt oder ihnen einen Vortrag hält.
Sondern indem er sie selbst das Wort finden lässt, das sie brauchen.
Sie finden es, weil er ihnen zuhört, sich für sie interessiert.
Dieses lebendige Interesse weckt die Erschöpften:
Sie finden ihren Mut, ihre Lebenslust wieder;
sie entdecken, was ihnen am Herzen liegt,
wenn sie dem Gottesknecht davon erzählen.

IV

Der Gottesknecht animiert die Erschöpften.
Die beginnen zu sagen, was sie bewegt.
Allen anderen macht er eine Ansage:
Er verkündigt ihnen Gottes Wort.
Das bringt ihm Ärger und Feindschaft ein.
Es kommt zum Prozess.
Dabei ist nicht an einen der Schauprozesse gedacht,
mit denen über Regimekritiker ein Urteil gefällt wird,
das schon vorher feststand.

In einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren geht es um die Wahrheit.
Das Gericht tritt zusammen, um die Wahrheit herauszufinden.
Die Wahrheit, die der Gottesknecht verkündigt - Gottes Wort -
steht gegen das, was seine Gegner vertreten.
In diesem Prozess der Wahrheitsfindung ist Gott nicht Richter,
sondern Anwalt seines Knechtes.

Denn nicht Gott entscheidet, was Wahrheit ist.
Sondern Gottes Wahrheit erweist sich dadurch,
dass eintritt, was sein Knecht ansagt.
Darum erntet er Widerspruch, darum macht er sich Feinde:
Weil er Dinge ansagt, die man nicht hören will,
weil das nicht wahr, nicht wirklich sein soll.
So leugnen heute viele den Klimawandel und meinen,
damit würden sie ihn verhindern.
Oder es wird per Dekret verfügt, es gäbe nur zwei Geschlechter,
und damit sei eine Wahrheit über uns Menschen ein für allemal festgelegt.

Der Gottesknecht verkündet die Wahrheit über den Menschen,
wie er im Lichte des Wortes Gottes erscheint.
Diese Wahrheit ist nicht leicht zu ertragen,
weil sie die Vorstellungen, die man von sich selbst
und von anderen hat, als Illusionen entlarvt.
Seine Gegner wollen das nicht hören.
Sie wollen an ihren Illusionen festhalten,
sich nicht der Wirklichkeit stellen.
Und meinen, sie könnten es verhindern,
indem sie ihm den Mund verbieten, ihn mundtot machen.
Aber die Wahrheit über uns Menschen lässt sich nicht verbieten.
Sie setzt sich immer durch, weil sie Gott als Anwalt hat,
weil sie Gottes Wort ist.

V

Mit dem, was der Gottesknecht verkündet,
verstört er die Leute, unterbricht ihren Geschäfte, ihren Alltag.
Nicht, weil er ein Störenfried wäre,
Freude daran hätte, etwas kaputt zu machen.
Sondern weil seine Botschaft, weil Gottes Wort verstörend wirkt.
Man könnte fast sagen:
Würde seine Botschaft nicht verstören, wäre sie nicht Gottes Wort.
Denn Gottes Wort ist das Wort, das wir uns nicht selber sagen können.
Es ist das Wort, das uns und unsere Sicht der Dinge infrage stellt,
um uns vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Der Gottesknecht sagt den Menschen dieses Wort,
obwohl es ihm nichts als Ärger einbringt.
Er will nicht, dass eintritt, was er ansagen muss.
Er ist bereit, selbst Leid zu ertragen,
um das Leid, das er ankündigen muss, abzuwehren,
Er nimmt das Leid auf sich, das er androht,
damit die, die seine Botschaft hören, nicht leiden müssen.
So etwas tut man aus Liebe.
Aus grenzenloser, umfassender Liebe.

VI

Damit dürfte klar sein, wen ich hier als Gottesknecht beschrieben habe:
Es ist Christus, der aus Liebe zu uns auf sich nahm, worunter wir leiden,
damit wir nicht mehr darunter leiden müssen.

Wir können das nicht nachahmen.
Wir können es nicht, und wir sollen es auch nicht.
Trotzdem hat Christus uns damit ein Beispiel gegeben.
Niemand ist zu alt, Schülerin oder Schüler zu sein:
Zu reden wie ein:e Schüler:in, und zu hören wie ein:e Schüler:in.
Jede und jeder von uns ist dazu berufen, die Wahrheit zu sagen,
uns selbst und anderen den Spiegel des Wortes Gottes vorzuhalten.

Dieser Spiegel zeigt uns unverblümt, wer und wie wir wirklich sind.
Der erste Blick in den Spiegel beschert eine Enttäuschung,
vielleicht sogar eine Kränkung.
Der zweite Blick befreit uns.
Denn die Wahrheit über uns ist nicht,
dass wir Sünderinnen und Sünder sind,
fehlerbehaftet, unvollkommen, schlecht.
Die Wahrheit über uns ist,
dass Christus uns so liebt, dass er für uns erlitten hat,
worunter wir leiden, damit wir frei sind.

Im Spiegel des Wortes Gottes sehen wir die Wahrheit, die uns frei macht:
Wir sind Gottes geliebte Töchter und Söhne, Schwestern und Brüder Christi.