Freitag, 29. September 2023

Der Bote ist die Botschaft

Ansprache am Michaelistag, 29.9.2023, über Apg 5

Durch die Apostel geschahen im Volk viele Zeichen und Wunder.

Die ganze Gemeinde kam regelmäßig in der Salomohalle zusammen.

Der Hohepriester und seine Leute

– die Gruppe der Sadduzäer –

wurden eifersüchtig auf diese Erfolge.

Deshalb beschlossen sie einzugreifen.

Sie ließen die Apostel festnehmen und ins öffentliche Gefängnis werfen.

Aber in der Nacht öffnete ein Engel des Herrn die Gefängnistüren,

führte sie hinaus und sagte:

»Geht in den Tempel und stellt euch dort vor das Volk.

Verkündet die Botschaft von dem Leben, das Jesus gebracht hat!«

Die Apostel gehorchten.

Früh am Morgen gingen sie zum Tempel und lehrten dort.


Daraufhin zog der Hauptmann der Tempelwache

mit seinen Leuten los

und ließ die Apostel abführen.

Sie führten die Apostel vor den jüdischen Rat.

Dort verhörte sie der Hohepriester.

Er sagte: »Haben wir euch nicht streng verboten,

im Namen von Jesus zu lehren?

Und doch ist eure Lehre mittlerweile in ganz Jerusalem verbreitet.

Und außerdem wollt ihr, dass wir für den Tod dieses Menschen

verantwortlich gemacht werden!«

Petrus und die anderen Apostel antworteten:

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«



Liebe Schwestern und Brüder,


es gibt zwei Arten von Engeln.


Da sind einmal die Engel,

die zu groß und zu erhaben sind,

als dass wir jemals hoffen könnten, ihnen zu begegnen.

Allen voran Gabriel, der Maria die Botschaft brachte,

dass sie Gottes Sohn zur Welt bringen würde.

Diese Engel sind nicht nur gewaltig,

sie sind auch gefährlich,

wenn sie die Pforten des Paradieses

mit flammendem Schwert bewachen.


Auf der anderen Seite gibt es Engel,

die uns eher auf Augenhöhe begegnen: Die Schutzengel.

Sie sind nicht so schrecklich und ehrfurchtgebietend

wie die Engel der Bibel.

Fast sind sie wie die Sicherheitsbeamten,

die wichtige Politiker auf Schritt und Tritt begleiten.


Einen solchen Schutzengel hatten auch die Apostel.

Er befreite sie aus dem Gefängnis.


Aber es ist doch eigenartig,

dass sich die Apostel nicht ihrer Freiheit freuen konnten,

sondern, kaum waren sie draußen,

mit einem Auftrag versehen wurden:

»Geht in den Tempel und stellt euch dort vor das Volk.

Verkündet die Botschaft von dem Leben, das Jesus gebracht hat!«


Gerade wegen dieser Botschaft waren die Apostel doch verhaftet

und ins Gefängnis geworfen worden!

Nun sollten sie sich erneut in Gefahr begeben

und wieder das Gefängnis erleiden - oder womöglich schlimmeres?


Paulus, ein anderer Apostel,

berichtet in einem Brief von den Entbehrungen und Gefahren,

denen er als Apostel ausgesetzt war:

„Von den Juden habe ich fünfmal

die »vierzig weniger einen Peitschenhiebe« bekommen.

Dreimal wurde ich von den Römern mit Stöcken geschlagen,

einmal gesteinigt.

Dreimal habe ich Schiffbruch erlitten.

Einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem offenen Meer.”


Man kann nicht behaupten,

dass die Schutzengel der Apostel

ihrer Aufgabe gewissenhaft nachgegangen wären.


Man gewinnt vielmehr den Eindruck,

dass es gar kein Schutzengel war,

der die Apostel aus dem Gefängnis holte.


Es gibt wohl noch eine dritte Art von Engeln.


Wenn man Engel von allen Vorstellungen befreit,

die sie überhöhen und idealisieren,

und wenn man sie auch nicht zu guten Kumpeln macht,

die uns wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgen,

was bleibt dann?


Der Theologe Karl Barth formuliert es so:


„Wo immer ein Engel erscheint, ist, redet, wirkt,

da erscheint, ist, redet, wirkt Gott selber.

Der Engel hat wirklich nichts davon,

Kreatur und also von Gott verschieden zu sein. (…)

Er müsste ein Lügengeist, ein Dämon sein,

ein Wesen, das sich selbst und Andere

hinsichtlich seines himmlischen Charakters täuschen würde,

wenn er von dieser Natur und Stellung mehr haben,

etwas für sich herausschlagen,

eine eigene Figur darstellen,

eine eigene Rolle spielen,

eigene Zwecke verfolgen

und eigene Erfolge erzielen wollte.

Ein wirklicher, ordentlicher Engel tut das nicht.”


Soweit Karl Barth. (KD III/3, S. 562)


Ein „Engel” ist also das,

als was ihn das Hebräische bezeichnet,

wo er mal’ach heißt, Bote.

Auch im Griechischen wird er Bote, angelos, genannt.

Ein Engel ist, wie Karl Barth schreibt,

so sehr und so ausschließlich Bote,

dass Bote und Botschaft identisch werden:

Der Engel ist die Botschaft,

und die Botschaft ist der Engel.


Die Geschichte von der wunderbaren Errettung

der Apostel aus dem Gefängnis

will nicht den Glauben an Engel wecken,

die uns ebenso aus der Klemme helfen,

wie es der Engel bei den Aposteln tat.


Denn er half ihnen nicht aus der Klemme.

Er führte sie erneut in Schwierigkeiten,

womöglich in noch größere Schwierigkeiten,

indem er sie dazu beauftragte,

die Botschaft weiterzugeben, wegen derer sie verfolgt wurden.


Wenn wir von Schutzengeln sprechen -

und wenn wir enttäuscht sind,

dass unser Schutzengel nicht für uns

oder für einen anderen, uns lieben Menschen da war -,

liegt vielleicht ein Missverständnis vor:


Engel sind nicht für uns da.

Sie sind nicht dazu da, uns das Leben zu erleichtern,

uns vor Gefahren, vor Leid und Schmerz zu bewahren.

Denn das Leben ist gefährlich, ist leidvoll und schmerzvoll.

Wir meinen, dass Gesundheit, Wohlstand und Glück

der Normalzustand sind,

und Krankheit, Leid und Gefahr die Ausnahme.

Und in unserer westlichen Welt ist das so.

Aber eben nur in unserer westlichen Welt.


Es sollte so sein, dass alle Menschen in Frieden leben können,

in körperlicher Unversehrtheit,

mit Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung,

sauberem Wasser, genug zu Essen.

Es sollte so sein, dass alle Menschen

ihre Gaben frei entfalten können,

so leben können, wie sie es sich vorstellen

und wie es für sie richtig ist.

Es sollte so sein, dass alle Menschen glücklich sein können.

Aber so ist es nicht.

So ist es nicht einmal in unserem reichen Land.


Und zunächst einmal ist es nicht zu verstehen,

warum die Engel Gottes nicht kommen,

und diese Missstände beheben,

damit kein Flüchtling mehr im Mittelmeer ertrinken muss,

niemand mehr durch Raketen oder Minen getötet wird,

kein Kind mehr vor Hunger stirbt,

niemand mehr wegen seiner Art zu leben oder zu lieben

stigmatisiert und ausgegrenzt wird.


Aber dies ist unsere Welt, nicht ihre.

So perfekt manches manchmal schon zu sein scheint:

Diese Welt wird niemals der Himmel auf Erden sein.

Trotzdem ist das Leben oft schön,

gibt es das Glück, die Unbeschwertheit

selbst in Gegenden, in denen Krieg oder Hunger herrschen,

selbst für Menschen, die krank sind und Schmerzen leiden.

Und doch gibt es sie nie ohne das andere,

und es gibt sie nicht auf Dauer.


In den Engeln begegnet uns Gottes Wort -

oder Gottes Wort wird uns zum Engel -,

das uns in Bewegung setzt.

Es fordert uns auf, uns erneut dem Leben zu stellen

und dieser so schrecklichen und so schönen Welt

die Botschaft von dem Leben zu bringen,

das Jesus gebracht hat.


Das Wort Gottes - der Engel - lässt uns dieses Leben genießen

und täuscht doch nicht darüber hinweg,

dass dieses Leben nicht das wahre Leben ist,

solange Menschen leiden, verfolgt werden,

hungern oder unterdrückt sind.


Das Wort Gottes - der Engel - macht uns selbst

zu Botinnen und Boten dieses Wortes.

Damit werden wir im wahrsten Sinne des Wortes

für andere zu Engeln.


Jetzt schließt sich der Kreis,

und wir sehen:

Die Engel wirken keine Wunder, weil wir selbst diese Engel sind.

Trotzdem können wir das Wunder wirken,

dass ein Mensch getröstet wird;

dass ein Mensch satt wird oder wieder gesund;

dass ein Mensch im Leiden nicht allein bleibt.


Wir können diese Welt retten vor uns selbst,

wenn wir dabei bleiben,

dass die Engel nicht für uns da sind.

Wir selbst sind Engel, die für andere da sind:

für alle, die sich nicht selbst helfen,

die sich nicht wehren können.

Wenn wir so füreinander Engel sind,

dann kommt ein Engel auch zu uns.